Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Spiel des Schicksals

 

Ein Bruchstück aus einer wahren Geschichte 

   Aloysius von G*** war der Sohn eines Bürgerlichen von Stande in ***schen Diensten, und die Keime seines glücklichen Genies wurden durch eine liberale Erziehung frühzeitig entwickelt. Noch sehr jung, aber mit gründlichen Kenntnissen versehen, trat er in Militärdienste bei seinem Landesherrn, dem er als ein junger Mann von großen Verdiensten und noch größeren Hoffnungen nicht lange verborgen blieb. G*** war in vollem Feuer der Jugend, der Fürst war es auch; G*** war rasch, unternehmend; der Fürst, der es auch war, liebte solche Charaktere. Durch eine reiche Ader von Witz und eine Fülle von Wissenschaft wusste G*** seinen Umgang zu beseelen, jeden Zirkel, in den er sich mischte, durch eine immer gleiche Jovialität aufzuheitern und über alles, was sich ihm darbot, Reiz und Leben auszugießen; und der Fürst verstand sich darauf, Tugenden zu schätzen, die er in einem hohen Grade selbst besaß. Alles, was er unternahm, seine Spielereien selbst, hatten einen Anstrich von Größe: Hindernisse schreckten ihn nicht, und kein Fehlschlag konnte seine Beharrlichkeit besiegen. Den Wert dieser Eigenschaften erhöhte eine empfehlende Gestalt, das volle Bild blühender Gesundheit und herkulischer Stärke, durch das beredte Spiel eines regen Geistes beseelt; im Blick, Gang und Wesen eine anerschaffene natürliche Majestät, durch eine edle Bescheidenheit gemildert. War der Prinz von dem Geiste seines jungen Gesellschafters bezaubert, so riss diese verführerische Außenseite seine Sinnlichkeit unwiderstehlich hin. Gleichheit des Alters, Harmonie der Neigungen und der Charaktere stiftete in kurzem ein Verhältnis zwischen beiden, das alle Stärke von der Freundschaft und von der leidenschaftlichen Liebe alles Feuer und alle Heftigkeit besaß. G*** flog von einer Beförderung zur andern; aber diese äußerlichen Zeichen schienen sehr weit hinter dem, was er dem Fürsten in der Tat war, zurückzubleiben. Mit erstaunlicher Schnelligkeit blühte sein Glück empor, weil der Schöpfer desselben sein Anbeter, sein leidenschaftlicher Freund war. Noch nicht zweiundzwanzig Jahre alt, sah er sich auf einer Höhe, womit die Glücklichsten sonst ihre Laufbahn beschließen. Aber sein tätiger Geist konnte nicht lange im Schoß müßiger Eitelkeit rasten, noch sich mit dem schimmernden Gefolge eines Größe begnügen, zu deren gründlichem Gebrauch er sich Mut und Kräfte genug fühlte. Während dass der Fürst nach dem Ring des Vergnügens flog, vergrub sich der junge Günstling unter Akten und Büchern und widmete sich mit Last tragendem Fleiß den Geschäften, deren er sich endlich so geschickt und so vollkommen bemächtigte, dass jede Angelegenheit, die nur einigermaßen von Belang war, durch seine Hände ging. Aus einem Gespielen seiner Vergnügen wurde er bald erster Rat und Minister und endlich Beherrscher seines Fürsten. Bald war kein Weg mehr zu diesem, als durch ihn. Er vergab alle Ämter und Würden; alle Belohnungen wurden aus seinen Händen empfangen. 

   G*** war in zu früher Jugend und mit zu raschen Schritten zu dieser Größe emporgestiegen, um ihrer mit Mäßigung zu genießen. Die Höhe, worauf er sich erblickte, machte seinen Ehrgeiz schwindeln; die Bescheidenheit verließ ihn, sobald das letzte Ziel seiner Wünsche erstiegen war. Die demutsvolle Unterwürfigkeit, welche von den Ersten des Landes, von allen, die durch Geburt, Ansehen und Glücksgüter so weit über ihn erhoben waren, welche von Greisen selbst, ihm, einem Jüngling, gezollt wurde, berauschte seinen Hochmut, und die unumschränkte Gewalt, von der er Besitz genommen, machte bald eine gewisse Härte in seinem Wesen sichtbar, die von jeher als Charakterzug in ihm gelegen hatte und ihm auch durch alle Abwechselungen seines Glückes geblieben ist. Keine Dienstleistung war so mühevoll und groß, die ihm seine Freunde nicht zumuten durften; aber seine Feinde mochten zittern: Denn so sehr er auf der einen Seite sein Wohlwollen übertrieb, so wenig Maß hielt er in seiner Rache. Er gebrauchte sein Ansehen weniger, sich selbst zu bereichern, als viele Glückliche zu machen, die ihm, als dem Schöpfer ihres Wohlstandes, huldigen sollten; aber Laune, nicht Gerechtigkeit wählte die Subjekte. Durch ein hochfahrendes, gebieterisches Wesen entfremdete er selbst die Herzen derjenigen von sich, die er am meisten verpflichtet hatte, indem er zugleich alle seine Nebenbuhler und heimlichen Neider in ebenso viele unversöhnliche Feinde verwandelte. 

   Unter denen, welche jeden seiner Schritte mit Augen der Eifersucht und des Neides bewachten, und in der Stille schon die Werkzeuge zu seinem Untergang zurichteten, war ein piemontesischer Graf, Joseph Martinengo, von der Suite des Fürsten, den G*** selbst, als eine unschädliche und ihm ergebene Kreatur, in diesen Posten eingeschoben hatte, um ihn bei den Vergnügungen seines Herrn den Platz ausfüllen zu lassen, dessen er selbst überdrüssig zu werden anfing, und den er lieber mit einer gründlichern Beschäftigung vertauschte. Da er diesen Menschen als ein Werk seiner Hände betrachtete, das er, sobald es ihm nur einfiele, in das Nichts wieder zurückwerfen könnte, woraus er es gezogen, so hielt er sich desselben, durch Furcht sowohl, als durch Dankbarkeit, versichert, und verfiel dadurch in eben den Fehler, den Richelieu beging, da er Ludwig dem Dreizehnten den jungen le Grand zum Spielzeug überließ. Aber ohne diesen Fehler mit Richelieus Geist verbessern zu können, hatte er es mit einem verschlageneren Feind zu tun, als der französische Minister zu bekämpfen gehabt hatte. Anstatt sich seines guten Glücks zu überheben und seinen Wohltäter fühlen zu lassen, dass man seiner nun entübrigt sei, war Martinengo vielmehr aufs sorgfältigste bemüht, den Schein dieser Abhängigkeit zu unterhalten und sich mit verstellter Unterwürfigkeit immer mehr und mehr an den Schöpfer seines Glücks anzuschließen. Zu gleicher Zeit aber unterließ er nicht, die Gelegenheit, die sein Posten ihm verschaffte, öfters um den Fürsten zu sein, in ihrem ganzen Umfang zu benutzen und sich diesem nach und nach notwendig und unentbehrlich zu machen. In kurzer Zeit wusste er das Gemüt seines Herrn auswendig, alle Zugänge zu seinem Vertrauen hatte er ausgespäht und sich unvermerkt in seine Gunst eingestohlen. Alle jene Künste, die ein edler Stolz und eine natürliche Erhabenheit der Seele den Minister verachten gelehrt hatte, wurden von dem Italiener in Anwendung gebracht, der zu Erreichung seines Zwecks auch das niedrigste Mittel nicht verschmähte. Da ihm sehr gut bewusst war, dass der Mensch nirgends mehr eines Führers und Gehilfen bedarf, als auf dem Wege des Lasters, und dass nichts zu kühneren Vertraulichkeiten berechtigt, als eine Mitwissenschaft geheim gehaltener Blößen: So weckte er Leidenschaften bei dem Prinzen, die bis jetzt noch in ihm geschlummert hatten, und dann drang er sich ihm selbst zum Vertrauten und Helfershelfer dabei auf. Er riss ihn zu solchen Ausschweifungen hin, die die wenigsten Zeugen und Mitwisser dulden; und dadurch gewöhnte er ihn unvermerkt, Geheimnisse bei ihm niederzulegen, wovon jeder Dritte ausgeschlossen war. So gelang es ihm endlich, auf die Verschlimmerung des Fürsten seinen schändlichen Glücksplan zu gründen, und eben darum, weil das Geheimnis ein wesentliches Mittel dazu war, so war das Herz des Fürsten sein, ehe sich G*** auch nur träumen ließ, dass er es mit einem andern teilte. 

   Man dürfte sich wundern, dass eine so wichtige Veränderung der Aufmerksamkeit des letztern entging; aber G*** war seines eigenen Wertes zu gewiss, um sich einen Mann wie Martinengo als Nebenbuhler auch nur zu denken, und dieser sich selbst zu gegenwärtig, zu sehr auf seiner Hut, um durch irgendeine Unbesonnenheit seinen Gegner aus dieser stolzen Sicherheit zu reißen. Was Tausende vor ihm auf dem glatten Grund der Fürstengunst straucheln gemacht hat, brachte auch G*** zum Fall – zu große Zuversicht zu sich selbst. Die geheimen Vertraulichkeiten zwischen Martinengo und seinem Herrn beunruhigten ihn nicht. Gerne gönnte er einem Aufkömmling* ein Glück, das er selbst im Herzen verachtete und das nie das Ziel seiner Bestrebungen gewesen war. Nur weil sie allein ihm den Weg zu der höchsten Gewalt bahnen konnte, hatte die Freundschaft des Fürsten einen Reiz für ihn gehabt, und leichtsinnig ließ er die Leiter hinter sich fallen, sobald sie ihm auf die erwünschte Höhe geholfen hatte. 

   Martinengo war nicht der Mann, sich mit einer so untergeordneten Rolle zu begnügen. Mit jedem Schritt, den er in der Gunst seines Herrn vorwärts tat, wurden seine Wünsche kühner, und sein Ehrgeiz fing an, nach einer gründlichern Befriedigung zu streben. Die künstliche Rolle von Unterwürfigkeit, die er bis jetzt noch immer gegen seinen Wohltäter beibehalten hatte, wurde immer drückender für ihn, je mehr das Wachstum seines Ansehens seinen Hochmut weckte. Da das Betragen des Ministers gegen ihn sich nicht nach den schnellen Fortschritten verfeinerte, die er in der Gunst des Fürsten machte, im Gegenteil oft sichtbar genug darauf eingerichtet schien, seinen aufsteigenden Stolz durch eine heilsame Rückerinnerung an seinen Ursprung niederzuschlagen: So wurde ihm dieses gezwungene und widersprechende Verhältnis endlich so lästig, dass er einen ernstlichen Plan entwarf, es durch den Untergang seines Nebenbuhlers auf einmal zu endigen. Unter dem undurchdringlichsten Schleier der Verstellung brütete er diesen Plan zur Reife. Noch durfte er es nicht wagen, sich mit seinem Nebenbuhler in offenbarem Kampfe zu messen; denn obgleich die erste Blüte von G***s Favoritenschaft dahin war, so hatte sie doch zu frühzeitig angefangen und zu tiefe Wurzeln im Gemüt des jungen Fürsten geschlagen, umso schnell daraus verdrängt zu werden. Der kleinste Umstand konnte sie in ihrer ersten Stärke zurückbringen: Darum begriff Martinengo wohl, dass der Streich, den er ihm beibringen wollte, ein tödlicher Streich sein müsse. Was G*** an des Fürsten Liebe vielleicht verloren haben mochte, hatte er an seiner Ehrfurcht gewonnen; je mehr sich Letzterer den Regierungsgeschäften entzog, desto weniger konnte er des Mannes entraten, der, selbst auf Unkosten des Landes, mit der gewissenhaftesten Ergebenheit und Treue seinen Nutzen besorgte – und so teuer er ihm ehedem als Freund gewesen war, so wichtig war er ihm jetzt als Minister.

   Was für Mittel es eigentlich gewesen, wodurch der Italiener zu seinem Zweck gelangte, ist ein Geheimnis zwischen den Wenigen geblieben, die der Schlag traf und die ihn führten. Man mutmaßte, dass er dem Fürsten die Originale einer heimlichen und sehr verdächtigen Korrespondenz vorgelegt, welche G*** mit einem benachbarten Hof soll unterhalten haben; ob echt oder unterschoben, darüber sind die Meinungen geteilt. Wie dem aber auch gewesen sein möge, so erreichte er seine Absicht in einem fürchterlichen Grad. G*** erschien in den Augen des Fürsten als der undankbarste und schwärzeste Verräter, dessen Verbrechen so außer allen Zweifel gesetzt war, dass man ohne fernere Untersuchung sogleich gegen ihn verfahren zu dürfen glaubte. Das Ganze wurde unter dem tiefsten Geheimnis zwischen Martinengo und seinem Herrn verhandelt, dass G*** auch nicht einmal von fern das Gewitter merkte, das über seinem Haupt sich zusammenzog. In dieser verderblichen Sicherheit verharrte er bis zu dem schrecklichen Augenblick, wo er von einem Gegenstand der allgemeinen Anbetung und des Neides zu einem Gegenstand der höchsten Erbarmung herunter sinken sollte. 

   Als dieser entscheidende Tag erschienen war, besuchte G*** nach seiner Gewohnheit die Wachparade. Vom Fähnrich war er in einem Zeitraum von wenigen Jahren bis zum Rang eines Obersten hinaufgerückt; und auch dieser Posten war nur ein bescheidener Name für die Ministerwürde, die er in der Tat bekleidete und die ihn über die Ersten im Land hinaussetzte. Die Wachparade war der gewöhnliche Ort, wo sein Stolz die allgemeine Huldigung einnahm, wo er in einer kurzen Stunde einer Größe und Herrlichkeit genoss, für die den ganzen Tag über Lasten getragen hatte. Die Ersten von Rang nahten sich ihm hier nicht anders als mit ehrerbietiger Schüchternheit; und die sich seiner Wohlgewogenheit nicht ganz sicher wussten, mit Zittern. Der Fürst selbst, wenn er sich je zuweilen hier einfand, sah sich neben seinem Wesir vernachlässigt, weil es weit gefährlicher war, diesem Letzteren zu missfallen, als es Nutzen brachte, jenen zum Freunde zu haben. Und eben dieser Ort, wo er sich sonst als einem Gott hatte huldigen lassen, war jetzt zu dem schrecklichen Schauplatz seiner Erniedrigung erkoren. 

   Sorglos trat er in den wohlbekannten Zirkel, der sich, eben so unwissend über das, was kommen sollte, als er selbst, heute wie immer, ehrerbietig vor ihm auftat, seine Befehle erwartend. Nicht lange, so erschien in Begleitung einiger Adjutanten Martinengo, nicht mehr der geschmeidige, tief gebückte, lächelnde Höfling – frech und bauernstolz, wie ein zum Herrn gewordener Lakai, mit trotzigem, festem Tritt schreitet er ihm entgegen, und mit bedecktem Haupt steht er vor ihm still, im Namen des Fürsten seinen Degen fordernd. Man reicht ihm diesen mit einem Blick schweigender Bestürzung, er stemmt die entblößte Klinge gegen den Boden, sprengt sie durch einen Fußtritt entzwei und lässt die Splitter zu G***s Füßen fallen. Auf dieses gegebene Signal fallen beide Adjutanten über ihn her, der eine beschäftigt, ihm das Ordenskreuz von der Brust zu schneiden, der andre, beide Achselbänder nebst den Aufschlägen der Uniform abzulösen und Cordon und Federbusch von dem Hut zu reißen. Während dieser ganzen schrecklichen Operation, die mit unglaublicher Schnelligkeit vonstatten geht, hört man von mehr als fünfhundert Menschen, die dicht umher stehen, nicht einen einzigen Laut, nicht einen einzigen Atemzug in der ganzen Versammlung. Mit bleichen Gesichtern, mit klopfendem Herzen und in totenähnlicher Erstarrung steht die erschrockene Menge im Kreis um ihn herum, der in dieser sonderbaren Ausstaffierung* – ein seltsamer Anblick von Lächerlichkeit und Entsetzen! – Einen Augenblick durchlebt, den man ihm nur auf dem Hochgericht nachempfindet. Tausend andre an seinem Platz würde die Gewalt des ersten Schreckens sinnlos zu Boden gestreckt haben; sein robuster Nervenbau und seine starke Seele dauerten diesen fürchterlichen Zustand aus und ließen ihn alles Grässliche desselben erschöpfen. 

   Kaum ist diese Operation geendigt, so führt man ihn durch die Reihen zahlloser Zuschauer bis ans äußerste Ende des Paradeplatzes, wo ein bedeckter Wagen ihn erwartet. Ein stummer Wink befiehlt ihm, in denselben zu steigen; eine Eskorte von Husaren begleitet ihn. Das Gerücht dieses Vorgangs hat sich unterdessen durch die ganze Residenz verbreitet, alle Fenster öffnen sich, alle Straßen sind von Neugierigen erfüllt, die schreiend dem Zug folgen und unter abwechselnden Ausrufungen des Hohnes, der Schadenfreude und einer noch weit kränkenderen Bedauernis, seinen Namen wiederholen. Endlich sieht er sich im Freien, aber ein neuer Schrecken wartet hier auf ihn. Seitab von der Heerstraße lenkt der Wagen, einen wenig befahrnen menschenleeren Weg – den Weg nach dem Hochgericht, gegen welches man ihn, auf einen ausdrücklichen Befehl des Fürsten, langsam heranfährt. Hier, nachdem man ihm alle Qualen der Todesangst zu empfinden gegeben, lenkt man wieder nach einer Straße ein, die von Menschen besucht wird. In der sengenden Sonnenhitze ohne Labung, ohne menschlichen Zuspruch, bringt er sieben schreckliche Stunden in diesem Wagen zu, der endlich mit Sonnenuntergang an dem Ort seiner Bestimmung, der Festung, stillhält. Des Bewusstseins beraubt, in einem mittlern Zustand zwischen Leben und Tod (ein zwölfstündiges Fasten und der brennende Durst hatten endlich seine Riesennatur überwältigt), zieht man ihn aus dem Wagen – und in einer scheußlichen Grube unter der Erde wacht er wieder auf. Der Erste, was sich, als er die Augen zum neuen Leben wieder aufschlägt, ihm darbietet, ist eine grauenvolle Kerkerwand, durch einige Mondesstrahlen matt erleuchtet, die in einer Höhe von neunzehn Klaftern* durch schmale Ritzen auf ihn herunterfallen. – An seiner Seite findet er ein dürftiges Brot nebst einem Wasserkrug und daneben eine Schütte Stroh zu seinem Lager. In diesem Zustand verharrt er bis zum folgenden Mittag, wo endlich in der Mitte des Turmes ein Laden sich auftut und zwei Hände sichtbar werden, von welchen in einem hängenden Korb dieselbe Kost, die er gestern hier gefunden, heruntergelassen wird. Jetzt, seit diesem ganzen fürchterlichen Glückswechsel zum ersten Mal, entrissen ihm Schmerz und Sehnsucht einige Fragen: Wie er hierher komme? Und was er verbrochen habe? Aber keine Antwort von oben; die Hände verschwinden, und der Laden geht wieder zu. Ohne das Gesicht eines Menschen zu sehen, ohne auch nur eines Menschen Stimme zu hören, ohne irgendeinen Aufschluss über dieses entsetzliche Schicksal, über Künftiges und Vergangenes in gleich fürchterlichen Zweifeln, von keinem warmen Lichtstrahl erquickt, von keinem gesunden Lüftchen erfrischt, aller Hilfe unerreichbar und vom allgemeinen Mitleid vergessen, zählt er in diesem Ort der Verdammnis vierhundertundneunzig grässliche Tage an den kümmerlichen Broten ab, die ihm von einer Mittagsstunde zur andern in trauriger Einförmigkeit hinunter gereicht werden. Aber eine Entdeckung, die er schon in den ersten Tagen seines Hierseins macht, vollendet das Maß seines Elends. Er kennt diesen Ort – er selbst war es, der ihn, von einer niedrigen Rachgier getrieben, wenige Monate vorher neu erbaute, um einen verdienten Offizier darin verschmachten zu lassen, der das Unglück gehabt hatte, seinen Unwillen auf sich zu laden. Mit erfinderischer Grausamkeit hatte er selbst die Mittel angegeben, den Aufenthalt in diesem Kerker grauenvoll zu machen. Er hatte vor nicht gar langer Zeit in eigner Person eine Reise hierher getan, den Bau in Augenschein zu nehmen und die Vollendung desselben zu beschleunigen. Um seine Marter aufs Äußerste zu treiben, muss es sich fügen, dass derselbe Offizier, für den dieser Kerker zugerichtet worden, ein alter, würdiger Oberster, dem eben verstorbenen Kommandanten der Festung im Amt nachfolgt und aus einem Schlachtopfer seiner Rache der Herr seines Schicksals wird. So floh ihn auch der letzte traurige Trost, sich selbst zu bemitleiden, und das Schicksal, so hart es ihn auch behandelte, einer Ungerechtigkeit zu zeihen. Zu dem sinnlichen Gefühl seines Elends gesellte sich noch eine wütende Selbstverachtung und der Schmerz, der für stolze Herzen der bitterste ist, von der Großmut eines Feindes abzuhängen, dem er keine gezeigt hatte. 

   Aber dieser rechtschaffene Mann war für eine niedrige Rache zu edel. Unendlich viel kostete seinem menschenfreundlichen Herzen die Strenge, die seine Instruktion ihm gegen den Gefangenen auflegte; aber als ein alter Soldat gewöhnt, den Buchstaben seiner Ordre mit blinder Treue zu befolgen, konnte er weiter nichts, als ihn bedauern. Einen tätigeren Helfer fand der Unglückliche an dem Garnisonsprediger der Festung, der, von dem Elend des gefangenen Mannes gerührt, wovon er nur spät und nur durch dunkle, unzusammenhängende Gerüchte Wissenschaft bekam, sogleich den festen Entschluss fasste, etwas zu seiner Erleichterung zu tun. Dieser achtungswürdige Geistliche, dessen Namen ich ungern unterdrücke, glaubte seinem Hirtenberuf nicht besser nachkommen zu können, als wenn er ihn jetzt zum Besten eines unglücklichen Mannes geltend machte, dem auf keinem andern Weg mehr zu helfen war. 

   Da er von dem Kommandanten der Festung nicht erhalten konnte, zu dem Gefangenen gelassen zu werden, so machte er sich in eigner Person auf den Weg nach der Hauptstadt, sein Gesuch dort unmittelbar bei dem Fürsten zu betreiben. Er tat einen Fußfall vor demselben und flehte seine Erbarmung für den unglücklichen Menschen an, der ohne die Wohltaten des Christentums, von denen auch das ungeheuerste Verbrechen nicht ausschließen könne, hilflos verschmachte und der Verzweiflung vielleicht nahe sei. Mit aller Unerschrockenheit und Würde, die das Bewusstsein erfüllter Pflicht verleiht, forderte er einen freien Zutritt zu dem Gefangenen, der ihm als Beichtkind angehöre und für dessen Seele er dem Himmel verantwortlich sei. Die gute Sache, für die er sprach, machte ihn beredt, und den ersten Unwillen des Fürsten hatte die Zeit schon in etwas gebrochen. Er bewilligte ihm seine Bitte, den Gefangenen mit einem geistlichen Besuch erfreuen zu dürfen. 

   Das erste Menschenantlitz, das der unglückliche G*** nach einem Zeitraum von sechzehn Monaten erblickte, war das Gesicht seines Helfers. Den einzigen Freund, der ihm in der Welt lebte, dankte er seinem Elend; sein Wohlstand hatte ihm keinen erworben. Der Besuch des Predigers war für ihn eines Engels Erscheinung. Ich beschreibe seine Empfindung nicht. Aber von diesem Tag an flossen seine Tränen gelinder, weil er sich von einem menschlichen Wesen beweint sah. 

   Entsetzen hatte den Geistlichen ergriffen, da er in die Mordgrube hinein trat. Seine Augen suchten einen Menschen – und ein Grauen erweckendes Scheusal kroch aus einem Winkel ihm entgegen, der mehr dem Lager eines wilden Tieres als dem Wohnort eines menschlichen Geschöpfes glich. Ein blasses, totenähnliches Gerippe, alle Farbe des Lebens aus einem Angesicht verschwunden, in welches Gram und Verzweiflung tiefe Furchen gerissen hatten, Bart und Nägel durch eine so lange Vernachlässigung bis zum Scheußlichen gewachsen, vom langen Gebrauch die Kleidung halb vermodert und aus gänzlichem Mangel der Reinigung die Luft um ihn verpestet - so fand er diesen Liebling des Glücks, und diesem allem hatte seine eiserne Gesundheit widerstanden! Von diesem Anblick noch außer sich gesetzt, eilte der Prediger auf der Stelle zu dem Gouverneur, um auch noch die zweite Wohltat für den armen Unglücklichen auszuwirken, ohne welche die erste für keine zu rechnen war. 

   Da sich dieser abermals mit dem ausdrücklichen Buchstaben seiner Instruktion entschuldigt, entschließt er sich großmütig zu einer zweiten Reise nach der Residenz, die Gnade des Fürsten noch einmal in Anspruch zu nehmen. Er erklärt, dass er sich, ohne die Würde des Sakraments zu verletzen, nimmermehr entschließen könnte, irgendeine heilige Handlung mit seinem Gefangenen vorzunehmen, wenn ihm nicht zuvor die Ähnlichkeit mit Menschen zurückgegeben würde. Auch dieses wird bewilligt, und erst von diesem Tage an lebt der Gefangene wieder. 

   Noch viele Jahre brachte G*** auf dieser Festung zu, aber in einem weit leidlicheren Zustand, nachdem der kurze Sommer des neuen Günstlings verblüht war und andre an seinen Posten wechselten, welche menschlicher dachten oder doch keine Rache an ihm zu sättigen hatten. Endlich nach einer zehnjährigen Gefangenschaft erschien ihm der Tag der Erlösung – aber keine gerichtliche Untersuchung, keine förmliche Lossprechung. Er empfing seine Freiheit als ein Geschenk aus den Händen der Gnade; zugleich ward ihm auferlegt, das Land auf ewig zu räumen. 

   Hier verlassen mich die Nachrichten, die ich, bloß aus mündlichen Überlieferungen, über seine Geschichte habe sammeln können; und ich sehe mich gezwungen, über einen Zeitraum von zwanzig Jahren hinweg zu schreiten. Während desselben fing G*** in fremden Kriegsdiensten von neuem seine Laufbahn an, die ihn endlich auch dort auf eben den glänzenden Gipfel führte, wovon er in seinem Vaterland so schrecklich heruntergestürzt war. Die Zeit endlich, die Freundin der Unglücklichen, die eine langsame, aber unausbleibliche Gerechtigkeit übt, nahm endlich auch diesen Rechtshandel über sich. Die Jahre der Leidenschaft waren bei dem Fürsten vorüber, und die Menschheit fing allgemach an, einen Wert bei ihm zu erlangen, wie seine Haare sich bleichten. Noch am Grab erwachte in ihm eine Sehnsucht nach dem Liebling seiner Jugend. Um, wo möglich, dem Greis die Kränkungen zu vergüten, die er auf den Mann gehäuft hatte, lud er den Vertriebenen freundlich in seine Heimat zurück, nach welcher auch in G***s Herzen schon längst eine stille Sehnsucht zurückgekehrt war. Rührend war dieses Wiedersehen, warm und täuschend der Empfang, als hätte man sich gestern erst getrennt. Der Fürst ruhte mit einem nachdenkenden Blick auf dem Gesicht, das ihm so wohl bekannt und doch wieder so fremd war; es war, als zählte er die Furchen, die er selbst darein gegraben hatte. Forschend suchte er in des Greisen Gesicht die geliebten Züge des Jünglings wieder zusammen, aber was er suchte, fand er nicht mehr. Man zwang sich zu einer frostigen Vertraulichkeit. Beider Herzen hatten Scham und Furcht auf immer und ewig getrennt. Ein Anblick, der ihm seine schwere Übereilung wieder in die Seele rief, konnte dem Fürsten nicht wohl tun! G*** konnte den Urheber seines Unglücks nicht mehr lieben. Doch getröstet und ruhig sah er in die Vergangenheit, wie man sich eines überstandenen schweren Traumes erfreut. 

   Nicht lange, so erblickte man G*** wieder im vollkommenen Besitz aller seiner vorigen Würden, und der Fürst bezwang seine innere Abneigung, um ihm für das Vergangene einen glänzenden Ersatz zu geben. Aber konnte er ihm auch das Herz dazu wiedergeben, das er auf immer für den Genuss des Lebens verstümmelte? Konnte er ihm die Jahre der Hoffnungen wiedergeben, oder für den abgelebten Greis ein Glück erdenken, das auch nur von weitem den Raub ersetzte, den er an dem Mann begangen hatte? 

   Noch neunzehn Jahre genoss G*** diesen heiteren Abend seines Lebens. Nicht Schicksale, nicht die Jahre hatten das Feuer der Leidenschaft bei ihm aufzehren, noch die Jovialität seines Geistes ganz bewölken können. Noch in seinem siebenzigsten Jahre haschte er nach dem Schatten eines Guts, das er im zwanzigsten wirklich besessen hatte. Er starb endlich – als Befehlshaber von der Festung ***, wo Staatsgefangene aufbewahrt wurden. Man wird erwarten, dass er gegen diese eine Menschlichkeit geübt, deren Wert er an sich selbst hatte schätzen lernen müssen; aber er behandelte sie hart und launisch, und ein Aufwallen des Zorns gegen einen derselben streckte ihn auf den Sarg in seinem achtzigsten Jahr.