Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?

(Eine akademische Antrittsrede.)1)

   Erfreuend und ehrenvoll ist mir der Auftrag, meine h. HH., an Ihrer Seite künftig ein Feld zu durchwandern, das dem denkenden Betrachter so viele Gegenstände des Unterrichts, dem tätigen Weltmann so herrliche Muster zur Nachahmung, dem Philosophen so wichtige Aufschlüsse und jedem ohne Unterschied so reiche Quellen des edelsten Vergnügens eröffnet – das große weite Feld der allgemeinen Geschichte. Der Anblick so vieler vortrefflichen jungen Männer, die eine edle Wissbegierde um mich her versammelt, und in deren Mitte schon manches wirksame Genie für das kommende Zeitalter aufblüht, macht mir meine Pflicht zum Vergnügen, lässt mich aber auch die Strenge und Wichtigkeit derselben in ihrem ganzen Umfang empfinden. Je größer das Geschenk ist, das ich Ihnen zu übergeben habe – und was hat der Mensch dem Menschen Größeres zu geben als Wahrheit? – Desto mehr muss ich Sorge tragen, dass sich der Wert desselben unter meiner Hand nicht verringere. Je lebendiger und reiner Ihr Geist in dieser glücklichsten Epoche seines Wirkens empfängt und je rascher sich Ihre jugendlichen Gefühle entflammen, desto mehr Aufforderung für mich, zu verhüten, dass sich dieser Enthusiasmus, den die Wahrheit allein das Recht hat zu erwecken, an Betrug und Täuschung nicht unwürdig verschwende.

   Fruchtbar und weit umfassend ist das Gebiet der Geschichte; in ihrem Kreis liegt die ganze moralische Welt. Durch alle Zustände, die der Mensch erlebte, durch alle abwechselnden Gestalten der Meinung, durch seine Torheit und seine Weisheit, seine Verschlimmerung und seine Veredlung, begleitet sie ihn; von allem, was er sich nahm und gab, muss sie Rechenschaft ablegen. Es ist keiner unter Ihnen allen, dem Geschichte nicht etwas Wichtiges zu sagen hätte; alle noch so verschiedenen Bahnen Ihrer künftigen Bestimmung verknüpfen sich irgendwo mit derselben; aber eine Bestimmung teilen Sie alle auf gleiche Weise miteinander, diejenige, welche Sie auf die Welt mitbrachten – sich als Menschen auszubilden – und zu dem Menschen eben redet die Geschichte. 

   Ehe ich es aber unternehmen kann, meine HH., Ihre Erwartungen von diesem Gegenstand Ihres Fleißes genauer zu bestimmen und die Verbindung anzugeben, worin derselbe mit dem eigentlichen Zweck Ihrer so verschiedenen Studien steht, wird es nicht überflüssig sein, mich über diesen Zweck Ihrer Studien selbst vorher mit Ihnen einzuverstehen. Eine vorläufige Berichtigung dieser Frage, welche mir passend und würdig genug scheint, unsre künftige akademische Verbindung zu eröffnen, wird mich in den Stand setzen, Ihre Aufmerksamkeit sogleich auf die würdigste Seite der Weltgeschichte hinzuweisen.

   Anders ist der Studierplan, den sich der Brotgelehrte, anders derjenige, den der philosophische Kopf sich vorzeichnet. Jener, dem es bei seinem Fleiß einzig und allein darum zu tun ist, die Bedingungen zu erfüllen, unter denen er zu einem Amt fähig und der Vorteile desselben teilhaftig werden kann, der nur darum die Kräfte seines Geistes in Bewegung setzt, um dadurch seinen sinnlichen Zustand zu verbessern und eine kleinliche Ruhmsucht zu befriedigen, ein solcher wird beim Eintritt in seine akademische Laufbahn keine wichtigere Angelegenheit haben, als die Wissenschaften, die er Brotstudien nennt, von allen übrigen, die den Geist nur als Geist vergnügen, auf das sorgfältigste abzusondern. Alle Zeit, die er diesen letztern widmete, würde er seinem künftigen Beruf zu entziehen glauben und sich diesen Raub nie vergeben. Seinen ganzen Fleiß wird er nach den Forderungen einrichten, die von dem künftigen Herrn seines Schicksals an ihn gemacht werden, und alles getan zu haben glauben, wenn er sich fähig gemacht hat, diese Instanz nicht zu fürchten. Hat er seinen Kursus durchlaufen und das Ziel seiner Wünsche erreicht, so entlässt er seine Führerinnen – denn wozu noch weiter sie bemühen? Seine größte Angelegenheit ist jetzt, die zusammengehäuften Gedächtnisschätze zur Schau zu tragen und ja zu verhüten, dass sie in ihrem Wert nicht sinken. Jede Erweiterung seiner Brotwissenschaft beunruhigt ihn, weil sie ihm neue Arbeit zusendet oder die vergangene unnütz macht; jede wichtige Neuerung schreckt ihn auf, denn sie zerbricht die alte Schulform, die er sich so mühsam zu eigen machte, sie setzt ihn in Gefahr, die ganze Arbeit seines vorigen Lebens zu verlieren. Wer hat über Reformatoren mehr geschrieen als der Haufen der Brotgelehrten? Wer hält den Fortgang nützlicher Revolutionen im Reich des Wissens mehr auf, als eben diese? Jedes Licht, das durch ein glückliches Genie, in welcher Wissenschaft es sei, angezündet wird, macht ihre Dürftigkeit sichtbar; sie fechten mit Erbitterung, mit Heimtücke, mit Verzweiflung, weil sie bei dem Schulsystem, das sie verteidigen, zugleich für ihr ganzes Dasein fechten. Darum kein unversöhnlicherer Feind, kein neidischerer Amtsgehilfe, kein bereitwilligerer Ketzermacher als der Brotgelehrte. Je weniger seine Kenntnisse durch sich selbst ihn belohnen, desto größere Vergeltung heischt er von außen; für den Verdienst der Handarbeiter und den Verdienst der Geister hat er nur einen Maßstab, die Mühe. Darum hört man niemand über Undank mehr klagen, als den Brotgelehrten; nicht bei seinen Gedankenschätzen sucht er seinen Lohn, seinen Lohn erwartet er von fremder Anerkennung, von Ehrenstellen, von Versorgung. Schlägt ihm dieses fehl, wer ist unglücklicher als der Brotgelehrte? Er hat umsonst gelebt, gewagt, gearbeitet; er hat umsonst nach Wahrheit geforscht, wenn sich Wahrheit für ihn nicht in Gold, in Zeitungslob, in Fürstengunst verwandelt.

   Beklagenswerter Mensch, der mit dem edelsten aller Werkzeuge, mit Wissenschaft und Kunst, nichts Höheres will und ausrichtet, als der Taglöhner mit dem schlechtesten, der im Reich der vollkommensten Freiheit eine Sklavenseele mit sich herumträgt! – Noch beklagenswerter aber ist der junge Mann von Genie, dessen natürlich schöner Gang durch schädliche Lehren und Muster auf diesen traurigen Abweg verlenkt wird, der sich überreden ließ, für seinen künftigen Beruf mit dieser kümmerlichen Genauigkeit zu sammeln. Bald wird seine Berufswissenschaft als ein Stückwerk ihn anekeln; Wünsche werden in ihm aufwachen, die sie nicht zu befriedigen vermag, sein Genie wird sich gegen seine Bestimmung auflehnen. Als Bruchstück erscheint ihm jetzt alles, was er tut, er sieht keinen Zweck seines Wirkens und doch kann er Zwecklosigkeit nicht ertragen. Das Mühselige, das Geringfügige in seinen Berufsgeschäften drückt ihn zu Boden, weil er ihm den frohen Mut nicht entgegensetzen kann, der nur die helle Einsicht, nur die geahnte Vollendung begleitet. Er fühlt sich abgeschnitten, herausgerissen aus dem Zusammenhang der Dinge, weil er unterlassen hat, seine Tätigkeit an das große Ganze der Welt anzuschließen. Dem Rechtsgelehrten entleidet seine Rechtswissenschaft, sobald der Schimmer besserer Kultur ihre Blößen ihm beleuchtet, anstatt dass er jetzt streben sollte, ein neuer Schöpfer derselben zu sein und den entdeckten Mangel aus innerer Fülle zu verbessern. Der Arzt entzweit sich mit seinem Beruf, sobald ihm wichtige Fehlschläge die Unzuverlässigkeit seiner Systeme zeigen; der Theologe verliert die Achtung für den seinigen, sobald sein Glaube an die Unfehlbarkeit seines Lehrgebäudes wankt. 

   Wie ganz anders verhält sich der philosophische Kopf! – Ebenso sorgfältig als der Brotgelehrte seine Wissenschaft von allen übrigen absondert, bestrebt sich jener, ihr Gebiet zu erweitern und ihren Bund mit den übrigen wieder herzustellen – herzustellen, sage ich, denn nur der abstrahierende Verstand hat jene Grenzen gemacht, hat jene Wissenschaften voneinander geschieden. Wo der Brotgelehrte trennt, vereinigt der philosophische Geist. Frühe hat er sich überzeugt, dass im Gebiet des Verstandes, wie in der Sinnenwelt, alles ineinander greift, und sein reger Trieb nach Übereinstimmung kann sich mit Bruchstücken nicht begnügen. Alle seine Bestrebungen sind auf Vollendung seines Wissens gerichtet: Seine edle Ungeduld kann nicht ruhen, bis alle seine Begriffe zu einem harmonischen Ganzen sich geordnet haben, bis er im Mittelpunkt seiner Kunst, seiner Wissenschaft steht und von hier aus ihr Gebiet mit befriedigtem Blick überschaut. Neue Entdeckungen im Kreis seiner Tätigkeit, die den Brotgelehrten niederschlagen, entzücken den philosophischen Geist. Vielleicht füllen sie eine Lücke, die das werdende Ganze seiner Begriffe noch verunstaltet hatte, oder setzen den letzten noch fehlenden Stein an sein Ideengebäude, der es vollendet. Sollten sie es aber auch zertrümmern, sollte eine neue Gedankenreihe, eine neue Naturerscheinung, ein neu entdecktes Gesetz in der Körperwelt den ganzen Bau seiner Wissenschaft umstürzen: So hat er die Wahrheit immer mehr geliebt, als sein System und gerne wird er die alte mangelhafte Form mit einer neuern und schönern vertauschen. Ja, wenn kein Streich von außen sein Ideengebäude erschüttert, so ist er selbst, von einem ewig wirksamen Trieb nach Verbesserung gezwungen, er selbst ist der erste, der es unbefriedigt auseinander legt, um es vollkommener wieder herzustellen. Durch immer neue und immer schönere Gedankenformen schreitet der philosophische Geist zu höherer Vortrefflichkeit fort, wenn der Brotgelehrte in ewigem Geistesstillstand das unfruchtbare Einerlei seiner Schulbegriffe hütet. 

   Kein gerechterer Beurteiler fremden Verdiensts als der philosophische Kopf. Scharfsichtig und erfinderisch genug, um jede Tätigkeit zu nutzen, ist er auch billig genug, den Urheber auch der kleinsten zu ehren. Für ihn arbeiten alle Köpfe – alle Köpfe arbeiten gegen den Brotgelehrten. Jener weiß alles, was um ihn geschieht und gedacht wird, in sein Eigentum zu verwandeln – zwischen denkenden Köpfen gilt eine innige Gemeinschaft aller Güter des Geistes; was einer im Reich der Wahrheit erwirbt, hat er allen erworben. – Der Brotgelehrte verzäunt sich gegen alle seine Nachbarn, denen er neidisch Licht und Sonne missgönnt und bewacht mit Sorge die baufällige Schranke, die ihn nur schwach gegen die siegende Vernunft verteidigt. Zu allem, was der Brotgelehrte unternimmt, muss er Reiz und Aufmunterung von außen her borgen*: Der philosophische Geist findet in seinem Gegenstand, in seinem Fleiß selbst, Reiz und Belohnung. Wie viel begeisterter kann er sein Werk angreifen, wie viel lebendiger wird sein Eifer, wie viel ausdauernder sein Mut und seine Tätigkeit sein, da bei ihm die Arbeit sich durch die Arbeit verjüngt. Das Kleine selbst gewinnt Größe unter seiner schöpferischen Hand, da er dabei immer das Große im Auge hat, dem es dient, wenn der Brotgelehrte in dem Großen selbst nur das Kleine sieht. Nicht was er treibt, sondern wie er das, was er treibt, behandelt, unterscheidet den philosophischen Geist. Wo er auch stehe und wirke, er steht immer im Mittelpunkt des Ganzen; und so weit ihn auch das Objekt seines Wirkens von seinen übrigen Brüdern entferne, er ist ihnen verwandt und nahe durch einen harmonisch wirkenden Verstand; er begegnet ihnen, wo alle hellen Köpfe einander finden. 

   Soll ich diese Schilderung noch weiter fortführen oder darf ich hoffen, dass es bereits bei Ihnen entschieden sei, welches von den beiden Gemälden, die ich Ihnen hier vorgehalten habe, Sie sich zum Muster nehmen wollen? Von der Wahl, die Sie zwischen beiden getroffen haben, hängt es ab, ob Ihnen das Studium der Universalgeschichte empfohlen oder erlassen werden kann. Mit dem Zweiten allein habe ich es zu tun; denn bei dem Bestreben, sich dem Ersten nützlich zu machen, möchte sich die Wissenschaft selbst allzu weit von ihrem höhern Endzweck entfernen und einen kleinen Gewinn mit einem zu großen Opfer erkaufen. 

   Über den Gesichtspunkt mit Ihnen einig, aus welchem der Wert einer Wissenschaft zu bestimmen ist, kann ich mich dem Begriff der Universalgeschichte selbst, dem Gegenstand der heutigen Vorlesung, nähern.

   Die Entdeckungen, welche unsere europäischen Seefahrer in fernen Meeren und auf entlegenen Küsten gemacht haben, geben uns ein ebenso lehrreiches als unterhaltendes Schauspiel. Sie zeigen uns Völkerschaften, die auf den mannigfaltigsten Stufen der Bildung um uns herum gelagert sind, wie Kinder verschiedenen Alters um einen Erwachsenen herum stehen und durch ihr Beispiel ihm in Erinnerung bringen, was er selbst vormals gewesen und wovon er ausgegangen ist. Eine weise Hand scheint uns diese rohen Völkerstämme bis auf den Zeitpunkt aufgespart zu haben, wo wir in unserer eignen Kultur weit genug würden fortgeschritten sein, um von dieser Entdeckung eine nützliche Anwendung auf uns selbst zu machen und den verlornen Anfang unsers Geschlechts aus diesem Spiegel wieder herzustellen. Wie beschämend und traurig aber ist das Bild, das uns diese Völker von unserer Kindheit geben! Und doch ist es nicht einmal die erste Stufe mehr, auf der wir sie erblicken. Der Mensch fing noch verächtlicher an. Wir finden jene doch schon als Völker, als politische Körper: Aber der Mensch musste sich erst durch eine außerordentliche Anstrengung zur politischen Gesellschaft erheben. 

   Was erzählen uns die Reisebeschreiber nun von diesen Wilden? Manche fanden sie ohne Bekanntschaft mit den unentbehrlichsten Künsten, ohne das Eisen, ohne den Pflug, einige sogar ohne den Besitz des Feuers. Manche rangen noch mit wilden Tieren um Speise und Wohnung, bei vielen hatte sich die Sprache noch kaum von tierischen Tönen zu verständlichen Zeichen erhoben. Hier war nicht einmal das so einfache Band der Ehe, dort noch keine Kenntnis des Eigentums; hier konnte die schlaffe Seele noch nicht einmal eine Erfahrung festhalten, die sie doch täglich wiederholte; sorglos sah man den Wilden das Lager hingeben, worauf er heute schlief, weil ihm nicht einfiel, dass er morgen wieder schlafen würde. Krieg hingegen war bei allen, und das Fleisch des überwundenen Feindes nicht selten der Preis des Sieges. Bei andern, die, mit mehreren Gemächlichkeiten des Lebens vertraut, schon eine höhere Stufe der Bildung erstiegen hatten, zeigten Knechtschaft und Despotismus ein schauderhaftes Bild. Dort sah man einen Despoten Afrikas seine Untertanen für einen Schluck Branntwein verhandeln: – Hier wurden sie auf seinem Grab abgeschlachtet, ihm in der Unterwelt zu dienen. Dort wirft sich die fromme Einfalt vor einem lächerlichen Fetisch und hier vor einem grausenvollen Scheusal nieder; in seinen Göttern malt sich der Mensch. So tief ihn dort Sklaverei, Dummheit und Aberglauben niederbeugen, so elend ist er hier durch das andere Extrem gesetzloser Freiheit. Immer zum Angriff und zur Verteidigung gerüstet, von jedem Geräusch aufgescheucht, reckt der Wilde sein scheues Ohr in die Wüste; Feind heißt ihm alles, was neu ist und wehe dem Fremdling, den das Ungewitter an seine Küste schleudert! Kein wirtlicher Herd wird ihm rauchen, kein süßes Gastrecht ihn erfreuen. Aber selbst da, wo sich der Mensch von einer feindseligen Einsamkeit zur Gesellschaft, von der Not zum Wohlleben, von der Furcht zu der Freude erhebt – wie abenteuerlich und ungeheuer zeigt er sich unsern Augen! Sein roher Geschmack sucht Fröhlichkeit in der Betäubung, Schönheit in der Verzerrung, Ruhm in der Übertreibung; Entsetzen erweckt uns selbst seine Tugend, und das, was er seine Glückseligkeit nennt, kann uns nur Ekel oder Mitleid erregen. 

   So waren wir. Nicht viel besser fanden uns Cäsar und Tacitus vor achtzehnhundert Jahren. 

   Was sind wir jetzt? – Lassen Sie mich einen Augenblick bei dem Zeitalter stillstehen, worin wir leben, bei der gegenwärtigen Gestalt der Welt, die wir bewohnen. 

   Der menschliche Fleiß hat sie angebaut und den widerstrebenden Boden durch sein Beharren und seine Geschicklichkeit überwunden. Dort hat er dem Meer Land abgewonnen, hier dem dürren Land Ströme gegeben. Zonen und Jahreszeiten hat der Mensch durcheinander gemengt und die weichlichen Gewächse des Orients zu seinem rauern Himmel abgehärtet. Wie er Europa nach Westindien und dem Südmeer trug, hat er Asien in Europa auferstehen lassen. Ein heiterer Himmel lacht jetzt über Germaniens Wäldern, welche die starke Menschenhand zerriss und dem Sonnenstrahl auftat, und in den Wellen des Rheins spiegeln sich Asiens Reben. An seinen Ufern erheben sich volkreiche Städte, die Genuss und Arbeit in munterem Leben durchschwärmen. Hier finden wir den Menschen in seines Erwerbes friedlichem Besitz sicher unter einer Million, ihn, dem sonst ein einziger Nachbar den Schlummer raubte. Die Gleichheit, die er durch seinen Eintritt in die Gesellschaft verlor, hat er wieder gewonnen durch weise Gesetze. Von dem blinden Zwange des Zufalls und der Not hat er sich unter die sanftere Herrschaft der Verträge geflüchtet und die Freiheit des Raubtiers hingegeben, um die edlere Freiheit des Menschen zu retten. Wohltätig haben sich seine Sorgen getrennt, seine Tätigkeiten verteilt. Jetzt nötigt ihn das gebieterische Bedürfnis nicht mehr an die Pflugschar, jetzt fordert ihn kein Feind mehr von dem Pflug auf das Schlachtfeld, Vaterland und Herd zu verteidigen. Mit dem Arm des Landmannes füllt er seine Scheunen, mit den Waffen des Kriegers schützt er sein Gebiet. Das Gesetz wacht über sein Eigentum – und ihm bleibt das unschätzbare Recht, sich selbst seine Pflicht auszulesen. 

   Wie viele Schöpfungen der Kunst, wie viele Wunder des Fleißes, welches Licht in allen Feldern des Wissens, seitdem der Mensch in der traurigen Selbstverteidigung seine Kräfte nicht mehr unnütz verzehrt, seitdem es in seine Willkür gestellt worden, sich mit der Not abzufinden, der er nie ganz entfliehen soll; seitdem er das kostbare Vorrecht errungen hat, über seine Fähigkeit frei zu gebieten und dem Ruf seines Genius zu folgen! Welche rege Tätigkeit überall, seitdem die vervielfältigten Begierden dem Erfindungsgeist neue Flügel gaben und dem Fleiß neue Räume auftaten! – Die Schranken sind durchbrochen, welche Staaten und Nationen in feindseligem Egoismus absonderten. Alle denkenden Köpfe verknüpft jetzt ein weltbürgerliches Band, und alles Licht seines Jahrhunderts kann nunmehr den Geist eines neuern Galilei und Erasmus bescheinen. 

   Seitdem die Gesetze zu der Schwäche des Menschen herunterstiegen, kam der Mensch auch den Gesetzen entgegen. Mit ihnen ist er sanfter geworden, wie er mit ihnen verwilderte; ihren barbarischen Strafen folgen die barbarischen Verbrechen allmählich in die Vergessenheit nach. Ein großer Schritt zur Veredlung ist geschehen, dass die Gesetze tugendhaft sind, wenn auch gleich noch nicht die Menschen. Wo die Zwangspflichten von dem Menschen ablassen, übernehmen ihn die Sitten. Den keine Strafe schreckt und kein Gewissen zügelt, halten jetzt die Gesetze des Anstandes und der Ehre in Schranken. 

   Wahr ist es, auch in unser Zeitalter haben sich noch manche barbarische Überreste aus den vorigen eingedrungen, Geburten des Zufalls und der Gewalt, die das Zeitalter der Vernunft nicht verewigen sollte. Aber wie viel Zweckmäßigkeit hat der Verstand des Menschen auch diesem barbarischen Nachlass der ältern und mittlern Jahrhunderte gegeben! Wie unschädlich, ja wie nützlich hat er oft gemacht, was er umzustürzen noch nicht wagen konnte! Auf dem rohen Grund der Lehen-Anarchie führte Deutschland das System seiner politischen und kirchlichen Freiheit auf. Das Schattenbild des römischen Imperators, das sich diesseits der Apenninen* erhalten, leistet der Welt jetzt unendlich mehr Gutes, als sein schreckhaftes Urbild im alten Rom – denn es hält ein nützliches Staatssystem durch Eintracht zusammen: Jenes drückte die tätigsten Kräfte der Menschheit in einer sklavischen Einförmigkeit danieder. Selbst unsre Religion – so sehr entstellt durch die untreuen Hände, durch welche sie uns überliefert worden – wer kann in ihr den veredelnden Einfluss der bessern Philosophie verkennen? Unsre Leibnitze und Locke machten sich um das Dogma und um die Moral des Christentums ebenso verdient, als – der Pinsel eines Raphael und Correggio um die heilige Geschichte. 

   Endlich unsre Staaten – mit welcher Innigkeit, mit welcher Kunst sind sie ineinander verschlungen! Wie viel dauerhafter durch den wohltätigen Zwang der Not als vormals durch die feierlichsten Verträge verbrüdert? Den Frieden hütet jetzt ein ewig geharnischter Krieg und die Selbstliebe eines Staats setzt ihn zum Wächter über den Wohlstand des andern. Die europäische Staatengemeinschaft scheint in eine große Familie verwandelt. Die Hausgenossen können einander anfeinden, aber hoffentlich nicht mehr zerfleischen. 

   Welche entgegen gesetzte Gemälde! Wer sollte in dem verfeinerten Europäer des achtzehnten Jahrhunderts nur einen fortgeschrittenen Bruder des neuern Kanadiers, des alten Kelten vermuten? Alle diese Fertigkeiten, Kunsttriebe, Erfahrungen, alle diese Schöpfungen der Vernunft sind im Raum von wenigen Jahrtausenden in dem Menschen angepflanzt und entwickelt worden; alle diese Wunder der Kunst, diese Riesenwerke des Fleißes sind aus ihm herausgerufen worden. Was weckte jene zum Leben, was lockte diese heraus? Welche Zustände durchwanderte der Mensch, bis er von jenem Äußersten zu diesem Äußersten, vom ungeselligen Höhlenbewohner – zum geistreichen Denker, zum gebildeten Weltmann hinauf stieg? – Die allgemeine Weltgeschichte gibt Antwort auf diese Frage. 

   So unermesslich ungleich zeigt sich uns das nämliche Volk auf dem nämlichen Landstrich, wenn wir es in verschiedenen Zeiträumen anschauen! Nicht weniger auffallend ist der Unterschied, den uns das gleichzeitige Geschlecht, aber in verschiedenen Ländern, darbietet. Welche Mannigfaltigkeit in Gebräuchen, Verfassungen und Sitten! Welcher rasche Wechsel von Finsternis und Licht, von Anarchie und Ordnung, von Glückseligkeit und Elend, wenn wir den Menschen auch nur in dem kleinen Weltteil Europa aufsuchen! Frei an der Themse und für diese Freiheit sein eigener Schuldner; hier unbezwingbar zwischen seinen Alpen, dort zwischen seinen Kunstflüssen und Sümpfen unüberwunden. An der Weichsel kraftlos und elend durch seine Zwietracht; jenseits der Pyrenäen durch seine Ruhe kraftlos und elend. Wohlhabend und gesegnet in Amsterdam ohne Ernte; dürftig und unglücklich an des Ebro unbenutztem Paradies. Hier zwei entlegene Völker durch ein Weltmeer getrennt und zu Nachbarn gemacht durch Bedürfnis, Kunstfleiß und politische Bande; dort die Anwohner eines Stromes durch eine andere Liturgie unermesslich geschieden! Was führte Spaniens Macht über den atlantischen Ozean in das Herz von Amerika* und nicht einmal über den Tajo und Guadiana hinüber? Was erhielt in Italien und Deutschland so viele Thronen und ließ in Frankreich alle, bis auf einen, verschwinden? – Die Universalgeschichte löst diese Frage. 

   Selbst dass wir uns in diesem Augenblick hier zusammen fanden, uns mit diesem Grad von Nationalkultur, mit dieser Sprache, diesen Sitten, diesen bürgerlichen Vorteilen, diesem Maß von Gewissensfreiheit zusammen fanden, ist das Resultat vielleicht aller vorhergegangenen Weltbegebenheiten: Die ganze Weltgeschichte würde wenigstens nötig sein, dieses einzige Moment zu erklären. Dass wir uns als Christen zusammen fanden, musste diese Religion, durch unzählige Revolutionen vorbereitet, aus dem Judentum hervorgehen, musste sie den römischen Staat genauso finden, als sie ihn fand, um sich mit schnellem, siegendem Lauf über die Welt zu verbreiten und den Thron der Cäsaren endlich selbst zu besteigen. Unsre rauen Vorfahren in den thüringischen Wäldern mussten der Übermacht der Franken unterliegen, um ihren Glauben anzunehmen. Durch seine wachsenden Reichtümer, durch die Unwissenheit der Völker und durch die Schwäche ihrer Beherrscher musste der Klerus verführt und begünstigt werden, sein Ansehen zu missbrauchen und seine stille Gewissensmacht in ein weltliches Schwert umzuwandeln. Die Hierarchie musste in einem Gregor und Innocenz alle ihre Gräuel auf das Menschengeschlecht ausleeren, damit das überhand nehmende Sittenverderbnis und des geistlichen Despotismus schreiendes Skandal einen unerschrockenen Augustiner-Mönch auffordern konnte, das Zeichen zum Abfall zu geben und dem römischen Hierarchien eine Hälfte Europas zu entreißen, – wenn wir uns als protestantische Christen hier versammeln sollten. Wenn dies geschehen sollte, so mussten die Waffen unsrer Fürsten Karl V. einen Religionsfrieden abnötigen; ein Gustav Adolf musste den Bruch dieses Friedens rächen, ein neuer allgemeiner Friede ihn auf Jahrhunderte begründen. Städte mussten sich in Italien und Deutschland erheben, dem Fleiß ihre Tore öffnen, die Ketten der Leibeigenschaft zerbrechen, unwissenden Tyrannen den Richterstab aus den Händen ringen und durch eine kriegerische Hansa sich in Achtung setzen, wenn Gewerbe und Handel blühen und der Überfluss den Künsten der Freude rufen, wenn der Staat den nützlichen Landmann ehren und in dem wohltätigen Mittelstand, dem Schöpfer unserer ganzen Kultur, ein dauerhaftes Glück für die Menschheit heranreifen sollte. Deutschlands Kaiser mussten sich in Jahrhundert langen Kämpfen mit den Päpsten, mit ihren Vasallen, mit eifersüchtigen Nachbarn entkräften – Europa sich seines gefährlichen Überflusses in Asiens Gräbern entladen und der trotzige Lehenadel in einem mörderischen Faustrecht, Römerzügen und heiligen Fahrten seinen Empörungsgeist ausbluten – wenn das verworrene Chaos* sich sondern und die streitenden Mächte des Staats in dem gesegneten Gleichgewicht ruhen sollten, wovon unsere jetzige Muße der Preis ist. Wenn sich unser Geist aus der Unwissenheit heraus ringen sollte, worin geistlicher und weltlicher Zwang ihn gefesselt hielt, so musste der lang erstickte Keim der Gelehrsamkeit unter ihren wütendsten Verfolgern aufs neue hervorbrechen, und ein Al Mamun den Wissenschaften den Raub vergüten, den ein Omar an ihnen verübt hatte. Das unerträgliche Elend der Barbarei musste unsre Vorfahren von den blutigen Urteilen Gottes zu menschlichen Richterstühlen treiben, verheerende Seuchen die verirrte Heilkunst zur Betrachtung der Natur zurückrufen, der Müßiggang der Mönche musste für das Böse, das ihre Werktätigkeit schuf, von fern einen Ersatz zubereiten und der profane Fleiß in den Klöstern die zerrütteten Reste des Augustischen Weltalters bis zu den Zeiten der Buchdruckerkunst hinhalten. An griechischen und römischen Mustern musste der niedergedrückte Geist nordischer Barbaren sich aufrichten und die Gelehrsamkeit einen Bund mit den Musen und Grazien schließen, wenn sie einen Weg zu dem Herzen finden und den Namen einer Menschenbilderin sich verdienen sollte. – Aber hätte Griechenland wohl einen Thucydides, einen Plato, einen Aristoteles*, hätte Rom einen Horaz, einen Cicero, einen Virgil und Livius geboren, wenn diese beiden Staaten nicht zu derjenigen Höhe des politischen Wohlstands empor gedrungen wären, welche sie wirklich erstiegen haben? Mit einem Wort – wenn nicht ihre ganze Geschichte vorhergegangen wäre? Wie viele Erfindungen, Entdeckungen, Staats- und Kirchen-Revolutionen mussten zusammentreffen, diesen neuen, noch zarten Keimen von Wissenschaft und Kunst Wachstum und Ausbreitung zu geben? Wie viele Kriege mussten geführt, wie viele Bündnisse geknüpft, zerrissen und aufs neue geknüpft werden, um endlich Europa zu dem Friedensgrundsatz zu bringen, welcher allein den Staaten wie den Bürgern vergönnt, ihre Aufmerksamkeit auf sich selbst zu richten und ihre Kräfte zu einem verständigen Zweck zu versammeln! 

   Selbst in den alltäglichsten Verrichtungen des bürgerlichen Lebens können wir es nicht vermeiden, die Schuldner vergangener Jahrhunderte zu werden; die ungleichartigsten Perioden der Menschheit steuern zu unsrer Kultur, wie die entlegensten Weltteile zu unsrem Luxus. Die Kleider, die wir tragen, die Würze an unsern Speisen und der Preis, um den wir sie kaufen, viele unsrer kräftigsten Heilmittel und eben so viele neue Werkzeuge unsers Verderbens – setzen sie nicht einen Columbus voraus, der Amerika* entdeckte, einen Vasco de Gama, der die Spitze von Afrika umschiffte? 

   Es zieht sich also eine lange Kette von Begebenheiten von dem gegenwärtigen Augenblick bis zum Anfang des Menschengeschlechts hinauf, die wie Ursache und Wirkung ineinander greifen. Ganz und vollzählig überschauen kann sie nur der unendliche Verstand; dem Menschen sind engere Grenzen gesetzt. I. Unzählig viele dieser Ereignisse haben entweder keinen menschlichen Zeugen und Beobachter gefunden oder sie sind durch kein Zeichen festgehalten worden. Dahin gehören alle, die dem Menschengeschlecht selbst und der Erfindung der Zeichen vorhergegangen sind. Die Quelle aller Geschichte ist Tradition und das Organ der Tradition ist die Sprache. Die ganze Epoche vor der Sprache, so folgenreich sie auch für die Welt gewesen, ist für die Weltgeschichte verloren. II. Nachdem aber auch die Sprache erfunden und durch sie die Möglichkeit vorhanden war, geschehene Dinge auszudrücken und weiter mitzuteilen, so geschah diese Mitteilung anfangs durch den unsichern und wandelbaren Weg der Sagen. Von Mund zu Mund pflanzte sich eine solche Begebenheit durch eine lange Folge von Geschlechtern fort, und da sie durch Media ging, die verändert werden und verändern, so musste sie diese Veränderungen mit erleiden. Die lebendige Tradition oder die mündliche Sage ist daher eine sehr unzuverlässige Quelle für die Geschichte; daher sind alle Begebenheiten vor dem Gebrauch der Schrift für die Weltgeschichte so gut als verloren. III. Die Schrift ist aber selbst nicht unvergänglich; unzählig viele Denkmäler des Altertums haben Zeit und Zufälle zerstört, und nur wenige Trümmer haben sich aus der Vorwelt in die Zeiten der Buchdruckerkunst gerettet. Bei weitem der größere Teil ist mit den Aufschlüssen, die er uns geben sollte, für die Weltgeschichte verloren. IV. Unter den wenigen endlich, welche die Zeit verschonte, ist die größere Anzahl durch die Leidenschaft, durch den Unverstand und oft selbst durch das Genie ihrer Beschreiber verunstaltet und unkennbar gemacht. Das Misstrauen erwacht bei dem ältesten historischen Denkmal, und es verlässt uns nicht einmal bei einer Chronik des heutigen Tages. Wenn wir über eine Begebenheit, die sich heute erst, und unter Menschen, mit denen wir leben, und in der Stadt, die wir bewohnen, ereignet, die Zeugen abhören und aus ihren widersprechenden Berichten Mühe haben die Wahrheit zu enträtseln: Welchen Mut können wir zu Nationen und Zeiten mitbringen, die durch Fremdartigkeit der Sitten weiter als durch ihre Jahrtausende von uns entlegen sind? – Die kleine Summe von Begebenheiten, die nach allen bisher geschehenen Abzügen zurückbleibt, ist der Stoff der Geschichte in ihrem weitesten Verstand. Was und wie viel von diesem historischen Stoff gehört nun der Universalgeschichte? 

   Aus der ganzen Summe dieser Begebenheiten hebt der Universalhistoriker diejenigen heraus, welche auf die heutige Gestalt der Welt und den Zustand der jetzt lebenden Generation einen wesentlichen, unwidersprüchlichen und leicht zu verfolgenden Einfluss gehabt haben. Das Verhältnis eines historischen Datums zu der heutigen Weltverfassung ist es also, worauf gesehen werden muss, um Materialien für die Weltgeschichte zu sammeln. Die Weltgeschichte geht also von einem Prinzip aus, das dem Anfang der Welt gerade entgegensteht. Die wirkliche Folge der Begebenheiten steigt von dem Ursprung der Dinge zu ihrer neuesten Ordnung herab; der Universalhistoriker rückt von der neuesten Weltlage aufwärts dem Ursprung der Dinge entgegen. Wenn er von dem laufenden Jahr und Jahrhundert zu dem nächst vorhergegangenen in Gedanken hinaufsteigt und unter den Begebenheiten, die das letztere ihm darbietet, diejenigen sich merkt, welche den Aufschluss über die nächstfolgenden enthalten – wenn er diesen Gang schrittweise fortgesetzt hat bis zum Anfang – nicht der Welt, denn dahin führt ihn kein Wegweiser – bis zum Anfang der Denkmäler: Dann steht es bei ihm, auf dem gemachten Weg umzukehren und an dem Leitfaden dieser bezeichneten Fakten, ungehindert und leicht, vom Anfang der Denkmäler bis zu dem neuesten Zeitalter herunter zu steigen. Dies ist die Weltgeschichte, die wir haben und die Ihnen wird vorgetragen werden. 

   Weil die Weltgeschichte von dem Reichtum und der Armut an Quellen abhängig ist, so müssen ebenso viele Lücken in der Weltgeschichte entstehen, als es leere Strecken in der Überlieferung gibt. So gleichförmig, notwendig und bestimmt sich die Weltveränderungen auseinander entwickeln, so unterbrochen und zufällig werden sie in der Geschichte ineinander gefügt sein. Es ist daher zwischen dem Gang der Welt und dem Gang der Weltgeschichte ein merkliches Missverhältnis sichtbar. Jenen möchte man mit einem ununterbrochen fort fließenden Strom vergleichen, wovon aber in der Weltgeschichte nur hie und da eine Welle beleuchtet wird. Da es ferner leicht geschehen kann, dass der Zusammenhang einer entfernten Weltbegebenheit mit dem Zustand des laufenden Jahres früher in die Augen fällt, als die Verbindung, worin sie mit Ereignissen stehet, die ihr vorhergingen oder gleichzeitig waren, so ist es ebenfalls unvermeidlich, dass Begebenheiten, die sich mit dem neuesten Zeitalter aufs genaueste binden, in dem Zeitalter, dem sie eigentlich angehören, nicht selten isoliert erscheinen. Ein Faktum dieser Art wäre z.B. der Ursprung des Christentums und besonders der christlichen Sittenlehre. Die christliche Religion hat an der gegenwärtigen Gestalt der Welt einen so vielfältigen Anteil, dass ihre Erscheinung das wichtigste Faktum für die Weltgeschichte wird; aber weder in der Zeit, wo sie sich zeigte, noch in dem Volk, bei dem sie aufkam, liegt (aus Mangel der Quellen) ein befriedigender Erklärungsgrund ihrer Erscheinung. 

   So würde denn unsre Weltgeschichte nie etwas anders als ein Aggregat von Bruchstücken werden und nie den Namen einer Wissenschaft verdienen. Jetzt also kommt ihr der philosophische Verstand zu Hilfe, und indem er diese Bruchstücke durch künstliche Bindungsglieder verkettet, erhebt er das Aggregat zum System, zu einem vernunftmäßig zusammenhängenden Ganzen. Seine Beglaubigung dazu liegt in der Gleichförmigkeit und unveränderlichen Einheit der Naturgesetze und des menschlichen Gemüts, welche Einheit Ursache ist, dass die Ereignisse des entferntesten Altertums, unter dem Zusammenfluss ähnlicher Umstände von außen, in den neuesten Zeitläufen wiederkehren; dass also von den neuesten Erscheinungen, die im Kreis unsrer Beobachtung liegen, auf diejenigen, welche sich in geschichtslosen Zeiten verlieren, rückwärts ein Schluss gezogen und einiges Licht verbreitet werden kann. Die Methode, nach der Analogie zu schließen, ist, wie überall, so auch in der Geschichte ein mächtiges Hilfsmittel: Aber sie muss durch einen erheblichen Zweck gerechtfertigt und mit ebenso viel Vorsicht als Beurteilung in Ausübung gebracht werden. 

   Nicht lange kann sich der philosophische Geist bei dem Stoff der Weltgeschichte verweilen, so wird ein neuer Trieb in ihm geschäftig werden, der nach Übereinstimmung strebt – der ihn unwiderstehlich reizt, alles um sich herum seiner eigenen vernünftigen Natur zu assimilieren und jede ihm vorkommende Erscheinung zu der höchsten Wirkung, die er erkannt, zum Gedanken zu erheben. Je öfter also und mit je glücklicherem Erfolg er den Versuch erneuert, das Vergangene mit dem Gegenwärtigen zu verknüpfen: Desto mehr wird er geneigt, was er als Ursache und Wirkung ineinander greifen sieht, als Mittel und Absicht zu verbinden. Eine Erscheinung nach der andere fängt an, sich dem blinden Ungefähr, der gesetzlosen Freiheit zu entziehen und sich einem übereinstimmenden Ganzen (das freilich nur in seiner Vorstellung vorhanden ist) als ein passendes Glied anzureihen. Bald fällt es ihm schwer, sich zu überreden, dass diese Folge von Erscheinungen, die in seiner Vorstellung so viel Regelmäßigkeit und Absicht annahm, diese Eigenschaften in der Wirklichkeit verleugne; es fällt ihm schwer, wieder unter die blinde Herrschaft der Notwendigkeit zu geben, was unter dem geliehenen Licht des Verstandes angefangen hatte, eine so heitre Gestalt zu gewinnen. Er nimmt also diese Harmonie aus sich selbst heraus und verpflanzt sie außer sich in die Ordnung der Dinge, d.i. er bringt einen vernünftigen Zweck in den Gang der Welt und ein teleologisches Prinzip in die Weltgeschichte. Mit diesem durchwandert er sie noch einmal und hält es prüfend gegen jede Erscheinung, welche dieser große Schauplatz ihm darbietet. Er sieht es durch tausend beistimmende Facta bestätigt und durch ebenso viele andre widerlegt; aber solange in der Reihe der Weltveränderungen noch wichtige Bindungsglieder fehlen, so lange das Schicksal über so viele Begebenheiten den letzten Aufschluss noch zurückhält, erklärt er die Frage für unentschieden und diejenige Meinung siegt, welche dem Verstand die höhere Befriedigung und dem Herzen die größre Glückseligkeit anzubieten hat. 

   Es bedarf wohl keiner Erinnerung, dass eine Weltgeschichte nach letzterem Plan in den spätesten Zeiten erst zu erwarten steht. Eine vorschnelle Anwendung dieses großen Maßes könnte den Geschichtsforscher leicht in Versuchung führen, den Begebenheiten Gewalt anzutun und diese glückliche Epoche für die Weltgeschichte immer weiter zu entfernen, indem er sie beschleunigen will. Aber nicht zu früh kann die Aufmerksamkeit auf diese lichtvolle und doch so sehr vernachlässigte Seite der Weltgeschichte gezogen werden, wodurch sie sich an den höchsten Gegenstand aller menschlichen Bestrebungen anschließt. Schon der stille Hinblick auf dieses, wenn auch nur mögliche, Ziel muss dem Fleiß des Forschers einen belebenden Sporn und eine süße Erholung geben. Wichtig wird ihm auch die kleinste Bemühung sein, wenn er sich auf dem Weg sieht oder auch nur einen spätern Nachfolger darauf leitet, das Problem der Weltordnung aufzulösen und dem höchsten Geist in seiner schönsten Wirkung zu begegnen. 

   Und auf solche Art behandelt, m. HH., wird Ihnen das Studium der Weltgeschichte eine ebenso anziehende als nützliche Beschäftigung gewähren. Licht wird sie in Ihrem Verstand und eine wohltätige Begeisterung in Ihrem Herzen entzünden. Sie wird Ihren Geist von der gemeinen und kleinlichen Ansicht moralischer Dinge entwöhnen, und indem sie vor Ihren Augen das große Gemälde der Zeiten und Völker auseinander breitet, wird sie die vorschnellen Entscheidungen des Augenblicks und die beschränkten Urteile der Selbstsucht verbessern. Indem sie den Menschen gewöhnt, sich mit der ganzen Vergangenheit zusammen zu fassen und mit seinen Schlüssen in die ferne Zukunft voraus zu eilen: So verbirgt sie die Grenzen von Geburt und Tod, die das Leben des Menschen so eng und so drückend umschließen, so breitet sie optisch täuschend sein kurzes Dasein in einen unendlichen Raum aus und führt das Individuum unvermerkt in die Gattung hinüber. 

   Der Mensch verwandelt sich und flieht von der Bühne; seine Meinungen fliehen und verwandeln sich mit ihm: Die Geschichte allein bleibt unausgesetzt auf dem Schauplatz eine unsterbliche Bürgerin aller Nationen und Zeiten. Wie der Homerische Zeus sieht sie mit gleich heiterem Blicke auf die blutigen Arbeiten des Kriegs und auf die friedlichen Völker herab, die sich von der Milch ihrer Herden schuldlos ernähren. Wie regellos auch die Freiheit des Menschen mit dem Weltlauf zu schalten scheint, ruhig sieht sie dem verworrenen Spiel zu; denn ihr weitreichender Blick entdeckt schon von fern, wo diese regellos schweifende Freiheit am Band der Notwendigkeit geleitet wird. Was sie dem strafenden Gewissen eines Gregors und Cromwells geheim hält, eilt sie der Menschheit zu offenbaren: „Dass der selbstsüchtige Mensch niedrige Zwecke zwar verfolgen kann, aber unbewusst vortreffliche befördert.“ 

   Kein falscher Schimmer wird sie blenden, kein Vorurteil der Zeit sie dahin reißen, denn sie erlebt das letzte Schicksal aller Dinge. Alles, was aufhört, hat für sie gleich kurz gedauert: Sie hält den verdienten Olivenkranz frisch und zerbricht den Obelisken, den die Eitelkeit türmte. Indem sie das feine Getriebe auseinander legt, wodurch die stille Hand der Natur schon seit dem Anfang der Welt die Kräfte des Menschen planvoll entwickelt und mit Genauigkeit andeutet, was in jedem Zeitraum für diesen großen Naturplan gewonnen worden ist: So stellt sie den wahren Maßstab für Glückseligkeit und Verdienst wieder her, den der herrschende Wahn in jedem Jahrhundert anders verfälschte. Sie heilt uns von der übertriebenen Bewunderung des Altertums und von der kindischen Sehnsucht nach vergangenen Zeiten; und indem sie uns auf unsre eigenen Besitzungen aufmerksam macht, lässt sie uns die gepriesenen goldnen Zeiten Alexanders und Augusts nicht zurückwünschen. 

   Unser menschliches Jahrhundert herbeizuführen haben sich – ohne es zu wissen oder zu erzielen – alle vorhergehenden Zeitalter angestrengt. Unser sind alle Schätze, welche Fleiß und Genie, Vernunft und Erfahrung im langen Alter der Welt endlich heimgebracht haben. Aus der Geschichte erst werden Sie lernen, einen Wert auf die Güter zu legen, denen Gewohnheit und unangefochtener Besitz so gern unsre Dankbarkeit rauben: Kostbare teure Güter, an denen das Blut der Besten und Edelsten klebt, die durch die schwere Arbeit so vieler Generationen haben errungen werden müssen! Und welcher unter Ihnen, bei dem sich ein heller Geist mit einem empfindenden Herzen gattet, könnte dieser hohen Verpflichtung eingedenk sein, ohne dass sich ein stiller Wunsch in ihm regte, an das kommende Geschlecht die Schuld zu entrichten, die er dem vergangenen nicht mehr abtragen kann? Ein edles Verlangen muss in uns entglühen, zu dem reichen Vermächtnis von Wahrheit, Sittlichkeit und Freiheit, das wir von der Vorwelt überkamen und reich vermehrt an die Folgewelt wieder abgeben müssen, auch aus unsern Mitteln einen Beitrag zu legen und an dieser unvergänglichen Kette, die durch alle Menschengeschlechter sich windet, unser fliehendes Dasein zu befestigen. Wie verschieden auch die Bestimmung sei, die in der bürgerlichen Gesellschaft Sie erwartet – etwas dazu steuern können Sie alle! Jedem Verdienst ist eine Bahn zur Unsterblichkeit aufgetan, zu der wahren Unsterblichkeit, meine ich, wo die Tat lebt und weiter eilt, wenn auch der Name ihres Urhebers hinter ihr zurückbleiben sollte.


1) Anmerkung des Herausgebers: Mit dieser Rede eröffnete der Verfasser seine historischen Vorlesungen in Jena. Sie erschien zuerst im Deutschen Mercur 1789, im November. ­