Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen1)

Einleitung

§ 1 

   Schon mehrere Philosophen haben behauptet, dass der Körper gleichsam der Kerker des Geistes sei, dass er solchen allzu sehr an das Irdische hefte und seinen so genannten Flug zur Vollkommenheit hemme. Wiederum ist von manchem Philosophen mehr oder weniger bestimmt die Meinung gehegt worden, dass Wissenschaft und Tugend nicht sowohl Zweck als Mittel zur Glückseligkeit seien, dass sich alle Vollkommenheit des Menschen in der Verbesserung seines Körpers versammle. 

   Mich deucht, es ist dies von beiden Teilen gleich einseitig gesagt. Letzteres System wird beinahe völlig aus unseren Moralen und Philosophien verwiesen sein und ist, scheint es mir, nicht selten mit allzu fanatischem Eifer verworfen worden – es ist gewiss der Wahrheit nichts so gefährlich, als wenn einseitige Meinungen einseitige Widerleger finden; – – das erstere ist wohl im Ganzen am meisten geduldet worden, indem es am fähigsten ist, das Herz zur Tugend zu erwärmen, und seinen Wert an wahrhaftig großen Seelen schon gerechtfertigt hat. Wer bewundert nicht den Starksinn eines Cato, die hohe Tugend eines Brutus und Aurels, den Gleichmut eines Epiktets und Seneca? Aber dessen ungeachtet ist es doch nichts mehr als eine schöne Verirrung des Verstandes, ein wirkliches Extremum, das den einen Teil des Menschen allzu enthusiastisch herabwürdigt und uns in den Rang idealistischer Wesen erheben will, ohne uns zugleich unserer Menschlichkeit zu entladen; ein System, das allem, was wir von der Evolution des einzelnen Menschen und des gesamten Geschlechts historisch wissen und philosophisch erklären können, schnurgerade zuwiderläuft und sich durchaus nicht mit der Eingeschränktheit der menschlichen Seele verträgt. Es ist demnach hier, wie überall, am ratsamsten, das Gleichgewicht zwischen beiden Lehrmeinungen zu halten, um die Mittellinie der Wahrheit desto gewisser zu treffen. Da aber gewöhnlicher Weise mehr darin gefehlt worden ist, dass man zu viel auf die eigene Rechnung der Geisteskraft, insofern sie außer Abhängigkeit von dem Körper gedacht wird, mit Hintansetzung dieses letztern geschrieben hat, so wird sich gegenwärtiger Versuch mehr damit beschäftigen, den merkwürdigen Beitrag des Körpers zu den Aktionen der Seele, den großen und reellen Einfluss des tierischen Empfindungssystemes auf das Geistige in ein helleres Licht zu setzen. Aber darum ist das noch gar nicht die Philosophie des Epikurus, so wenig es Stoizismus ist, die Tugend für das höchste Gut zu halten. 

   Ehe wir die höheren moralischen Zwecke, die mit Beihilfe der tierischen Natur erreicht werden, zu erforschen suchen, müssen wir zuerst ihre physische Notwendigkeit festsetzen und in einigen Grundbegriffen einig werden. Darum der erste Gesichtspunkt, aus welchem wir den Zusammenhang der beiden Naturen betrachten. 

Physischer Zusammenhang

Tierische Natur befestigt die Tätigkeit des Geists

§ 2

Organismus der Seelenwirkung – der Ernährung – der Zeugung

   Alle Anstalten, die wir in der sittlichen und körperlichen Welt zur Vollkommenheit des Menschen gewahrnehmen, scheinen sich zuletzt in den Elementarsatz zu vereinigen: Vollkommenheit des Menschen liegt in der Übung seiner Kräfte durch Betrachtung des Weltplans; und da zwischen dem Maß der Kraft und dem Zweck, auf den sie wirkt, die genaueste Harmonie sein muss, so wird Vollkommenheit in der höchstmöglichsten Tätigkeit seiner Kräfte und ihrer wechselseitigen Unterordnung bestehen. Aber die Tätigkeit der menschlichen Seele ist – aus einer Notwendigkeit, die ich noch nicht erkenne, und auf eine Art, die ich noch nicht begreife – an die Tätigkeit der Materie gebunden. Die Veränderungen in der Körperwelt müssen durch eine eigene Klasse mittlerer organischer Kräfte, die Sinne, modifiziert und so zu sagen verfeinert werden, ehe sie vermögend sind, in mir eine Vorstellung zu erwecken; so müssen wiederum andere organische Kräfte, die Maschinen der willkürlichen Bewegung, zwischen Seele und Welt treten, um die Veränderung der ersteren auf die letztere fortzupflanzen; so müssen endlich selbst die Operationen des Denkens und Empfindens gewissen Bewegungen des innern Sensoriums korrespondieren. Alles dieses macht den Organismus der Seelenwirkungen aus. 

   Aber die Materie ist ein Raub des ewigen Wechsels und reibt sich selbst auf, so wie sie wirkt; unter der Bewegung wird das Element aus seinen Fugen getrieben, verjagt und verloren. Weil nun im Gegenteil das einfache Wesen, die Seele, Dauer und Bestand in sich selber hat und in ihrem Wesen weder gewinnt noch verliert, so kann die Materie nicht gleichen Schritt mit der Geistestätigkeit halten, und bald würde also der Organismus des geistigen Lebens, mit ihm alle Wirksamkeit der Seele dahin sein. Dies nun zu verhüten, musste ein neues System organischer Kräfte zu dem ersten gleichsam angereiht werden, das seine Konsumtionen ersetzt und seinen sinkenden Flor durch eine stetig aneinander hängende Kette neuer Schöpfungen erhält. Dies ist der Organismus der Ernährung. 

   Noch mehr. Nach einem kurzen Zeitraum von Wirkung, nach dem aufgehobenen Gleichgewicht zwischen Verlust und Erneuerung tritt der Mensch von der Bühne des Lebens, und das Gesetz der Sterblichkeit entvölkert die Erde. Auch hat die Anzahl empfindender Wesen, die die ewige Liebe und Weisheit in ein glückliches Dasein wollte gerufen haben, nicht Raum genug, in den engen Grenzen dieser Welt zumal zu existieren, und das Leben dieser Generation schließt das Leben einer andern aus. Darum ward es notwendig, dass neue Menschen an die Stelle der weggeschiedenen, alten treten und das Leben durch ununterbrochene Sukkession en erhalten würde. Aber geschaffen wird nichts mehr, und was nun Neues wird, wird es nur durch Entwicklung. Die Entwicklung des Menschen musste durch Menschen geschehen, wenn sie mit der Konsumtion im Verhältnis stehen, wenn der Mensch zum Menschen gebildet werden sollte. Aus diesem Grund wurde ein neues System organischer Kräfte den zwei vorhergehenden zugeordnet, das die Belebung und Entwicklung des Menschenkeims zur Absicht hatte. Dies ist der Organismus der Zeugung. Diese drei Organismi, in den genaueren Lokal- und Realzusammenhang gebracht, bilden den menschlichen Körper.

§ 3

Der Körper

   Die organischen Kräfte des menschlichen Körpers teilen sich von selbst in zwei Hauptklassen: Die erste enthält diejenigen, die wir nach keinen bekannten Gesetzen und Phänomenen der physischen Welt begreifen können, und dahin gehören die Empfindlichkeit der Nerven und die Reizbarkeit des Muskels. Da es bisher unmöglich war, in die Ökonomie des Unsichtbaren einzudringen, so hat man die unbekannte Mechanik durch die bekannte zu erklären gesucht und den Nerven als einen Kanal* betrachtet, der ein äußerst feines, flüchtiges und wirksames Fluidum führt, das an Geschwindigkeit und Feinheit Äther* und elektrische Materie übertreffen soll, und hat dieses als das Prinzip der Empfindlichkeit und Beweglichkeit angesehen und ihm daher den Namen der Lebensgeister gegeben. So hat man ferner die Reizbarkeit der Muskelfaser in einen gewissen Nisum gesetzt, sich auf Veranlassung eines fremden Reizes zu verkürzen und beide Endpunkte näher zu bringen. Diese zweierlei Prinzipien machen den spezifischen Charakter des tierischen Organismus. 

   Die zweite Klasse begreift diejenigen, die wir den allgemeinen bekannten Gesetzen der Physik unterordnen können. Hierher rechne ich die Mechanik der Bewegung und die Chemie des menschlichen Körpers, woraus das vegetabilische Leben erwächst. Vegetation also und tierische Mechanik, auf das genaueste vermischt, bilden eigentlich das physische Leben des menschlichen Körpers. 

§ 4

Tierisches Leben

   Noch ist das nicht alles. Da der Verlust mehr oder weniger in der Willkür des Geistes liegt, so musste es auch notwendig der Ersatz sein. Ferner, da der Körper allen Folgen der Zusammensetzung unterworfen und im Kreis der um ihn wirkenden Dinge unzähligen feindlichen Wirkungen bloßgestellt ist, so musste es in der Gewalt der Seele stehen, ihn wider den schädlichen Einfluss dieser letztern zu beschützen und ihn mit der physischen Welt in diejenigen Verhältnisse zu bringen, die seiner Fortdauer am zuträglichsten sind; sie musste daher von dem gegenwärtigen schlimmen oder guten Zustand ihrer Organe unterrichtet werden; sie musste aus seinem schlimmen Zustand Missvergnügen, aus seinem Wohlstand Vergnügen schöpfen, um ihn entweder zu verlängern oder zu entfernen, zu suchen oder zu fliehen. Hier also wird schon der Organismus an das Empfindungsvermögen gleichsam angeknüpft und die Seele in das Interesse ihres Körpers gezogen. Jetzt ist es etwas mehr als Vegetation, etwas mehr als toter Model und Nerven- und Muskel-Mechanik, jetzt ist es tierisches Leben2).

   Der Flor des tierischen Lebens ist, wie wir wissen, für den Flor der Seelenwirkungen äußerst wichtig und darf ohne die Totalaufhebung dieser letztern niemals aufgehoben werden. Er muss also einen festen Grund haben, der ihm nicht so leicht schwanke, das heißt, die Seele muss durch eine unwiderstehliche Macht zu den Handlungen des physischen Lebens bestimmt werden. Konnten also wohl die Empfindungen des tierischen Wohl- oder Übelstands geistige Empfindungen sein und durch das Denken erzeugt werden? Wie oft würde sie das überwaltende Licht der Leidenschaften verdunkeln, wie oft Trägheit oder Dummheit begraben, wie oft Geschäftigkeit und Zerstreuung übersehen? Ferner, würde nicht von dem Tiermenschen die vollkommenste Kenntnis seiner Ökonomie gefordert, müsste das Kind nicht in demjenigen Meister sein, in dem unsere Harvey, Boerhave und Haller nach einer fünfzigjährigen Untersuchung noch Anfänger geblieben sind? – Die Seele konnte also schlechterdings keine Idee von dem Zustand haben, den sie verändern soll. Wie wird sie ihn erfahren, wie wird sie in Tätigkeit kommen? 

§ 5

Tierische Empfindungen

   Noch kennen wir keine andern Empfindungen als solche, die aus einer vorgängigen Operation des Verstandes entspringen; aber jetzt sollen Empfindungen entstehen, bei denen der Verstand ganz exulieren muss. Diese Empfindungen sollen die gegenwärtige Beschaffenheit meiner Werkzeuge wo nicht ausdrücken, doch gleichsam spezifisch bezeichnen, oder besser, begleiten. Diese Empfindungen sollen den Willen rasch und lebhaft zu Abscheu oder Begierde bestimmen, diese Empfindungen sollen aber doch nur auf der Oberfläche der Seele schweben und niemals in das Gebiet der Vernunft reichen. Was also bei der geistigen Empfindung das Denken getan hat, das tut hier diejenige Modifikation in den tierischen Teilen, die entweder ihre Auflösung droht oder ihre Fortdauer sichert, das heißt, mit demjenigen Zustand der Maschine, der ihren Flor befestigt, ist eine angenehme, und im Gegenteil mit demjenigen, der ihren Wohlstand untergräbt und ihren Ruin beschleunigt, eine schmerzhafte Rührung der Seele durch ein ewiges Gesetz der Weisheit verbunden, und so, dass die Empfindung selbst nicht die geringste Ähnlichkeit mit der Beschaffenheit der Organe hat, die sie bezeichnet. So entstehen tierische Empfindungen. Tierische Empfindungen haben demnach einen zweifachen Grund, 1) in dem gegenwärtigen Zustand der Maschine, 2) im Empfindungsvermögen. 

   Nun lässt sich begreifen, warum die tierischen Empfindungen mit unwiderstehlicher und gleichsam tyrannischer Macht die Seele zu Leidenschaften und Handlungen fortreißen und über die geistigsten selbst nicht selten die Oberhand bekommen. Diese nämlich hat sie vermittelst des Denkens hervorgebracht, diese also kann sie wiederum durch das Denken auflösen und gar vernichten. Dies ist die Gewalt der Abstraktion* und überhaupt der Philosophie über die Leidenschaften, über die Meinungen, kurz über alle Situationen des Lebens, jene aber sind ihr durch eine blinde Notwendigkeit, durch das Gesetz des Mechanismus aufgedrungen worden; der Verstand, der sie nicht schuf, kann sie auch nicht auflösen, ob er dieselben schon durch eine entgegen gesetzte Richtung der Aufmerksamkeit um vieles schwächen und verdunkeln kann. Der hartnäckigste Stoiker, der am Steinschmerzen danieder liegt, wird sich niemals rühmen können, keinen Schmerz empfunden zu haben; aber er wird, in Betrachtungen über seine Endursachen verloren, die Empfindungskraft teilen, und das überwiegende Vergnügen der großen Vollkommenheit, die auch den Schmerz der allgemeinen Glückseligkeit unterordnet, wird über die Unlust siegen. Nicht Mangel der Empfindung war es, nicht Vernichtung derselben, dass Mucius, die Hand in lohen Flammen bratend, den Feind mit dem römischen Blick der stolzen Ruhe anstarren konnte, sondern der Gedanke des großen ihn bewundernden Roms, der in seiner Seele herrschte, hielt sie gleichsam innerhalb ihrer selbst gefangen, dass der heftige Reiz des tierischen Übels zu wenig war, sie aus dem Gleichgewicht zu heben. Aber darum war der Schmerz des Römers nicht geringer als der des weichsten Wollüstlings. Freilich wohl wird derjenige, der gewohnt ist, in einem Zustand dunkler Ideen zu existieren, weniger fähig sein, sich in dem kritischen Augenblick des sinnlichen Schmerzens zu ermannen, als der, der beständig in hellen deutlichen Ideen lebt; aber dennoch schützt weder die höchste Tugend, noch die tiefste Philosophie, noch selbst die göttliche Religion vor dem Gesetz der Notwendigkeit, ob sie schon ihre Anbeter auf dem einstürzenden Holzstoß beseligen kann. 

   Eben diese Macht der tierischen Fühlungen auf die Empfindungskraft der Seele hat die weiseste Absicht zugrunde. Der Geist, wenn er einmal in den Geheimnissen einer höhern Wollust eingeweiht worden ist, würde mit Verachtung auf die Bewegungen seines Gefährten herabsehen und den niedrigen Bedürfnissen des physischen Lebens nicht leicht mehr opfern wollen, wenn ihn nicht das tierische Gefühl dazu zwänge. Den Mathematiker, der in den Regionen des Unendlichen schweifte und in der Abstraktionswelt* die wirkliche verträumte, jagt der Hunger aus seinem intellektuellen Schlummer empor; den Physiker, der die Mechanik des Sonnensystems zergliedert und den irrenden Planeten durchs Unermessliche begleitet, reißt ein Nadelstich zu seiner mütterlichen Erde zurück; den Philosophen, der die Natur der Gottheit entfaltet und wähnt, die Schranken der Sterblichkeit durchbrochen zu haben, kehrt ein kalter Nordwind, der durch seine baufällige Hütte streicht, zu sich selbst zurück und lehrt ihn, dass er das unselige Mittelding von Vieh und Engel ist.

   Wider die überhand nehmenden tierischen Fühlungen vermag endlich die höchste Anstrengung des Geistes nichts mehr, die Vernunft wird, so wie sie wachsen, mehr und mehr übertäubt und die Seele gewaltsam an den Organismus gefesselt. Hunger und Durst zu löschen, wird der Mensch Taten tun, worüber die Menschlichkeit schauert, er wird wider Willen Verräter und Mörder, er wird Kannibale – 

„Tiger! In deiner Mutter Busen wolltest du deine Zähne setzen?“ 

So heftig wirkt die tierische Fühlung auf den Geist. So wachsam hat der Schöpfer für die Erhaltung der Maschine gesorgt; die Pfeiler, auf denen sie ruht, sind die festesten, und die Erfahrung hat gelehrt, dass mehr das Übermaß, als der Mangel der tierischen Empfindung verdorben hat. 

   Tierische Empfindungen befestigen also den Wohlstand der tierischen Natur, so wie die moralischen und intellektuellen den Wohlstand der geistigen oder die Vollkommenheit. Das System tierischer Empfindungen und Bewegungen erschöpft den Begriff der tierischen Natur. Diese ist der Grund, aus dem die Beschaffenheit der Seelenwerkzeuge beruht, und die Beschaffenheit dieser letztern bestimmt die Leichtigkeit und Fortdauer der Seelentätigkeit selbst. Hier also ist schon das erste Glied des Zusammenhangs der beiden Naturen. 

§ 6

Einwürfe wider den Zusammenhang der beiden Naturen aus der Moral

   Aber man wird dieses einräumen und weiter sagen: Hier endet sich auch die Bestimmung des Körpers. Über diese hinaus ist er ein träger Gefährte der Seele, mit dem sie ewig zu kämpfen hat, dessen Bedürfnisse ihr alle Muße zum Denken rauben, dessen Anfechtungen den Faden der vertieftesten Spekulation zerreißen und den Geist von seinen deutlichsten und hellesten Begriffen in sinnliche Verworrenheit stürzen; dessen Lüste den größten Teil unserer Mitgeschöpfe von ihrem hohen Urbild entfernen und in die Klasse der Tiere erniedrigen, kurz, der sie in eine Sklaverei verstrickt, woraus der Tod sie endlich befreien muss. Ist es nicht widersinnig und ungerecht, dürfte man fortfahren zu klagen, das einfache, notwendige, für sich Bestand habende Wesen mit einem andern Wesen zu verwickeln, das, in ewigem Wirbel umhergerollt, jedem Ungefähr preisgegeben, jeder Notwendigkeit zum Opfer wird? – Vielleicht sehen wir bei kälterem Nachdenken aus dieser anscheinenden Verwirrung und Planlosigkeit eine große Schönheit hervorgehen. 

Philosophischer Zusammenhang

Tierische Triebe wecken und entwickeln die geistigen

§ 7

Methode

   Die sicherste Methode, einiges Licht auf diese Materie zu werfen, mag vielleicht folgende sein: Man denkt sich vom Menschen alles weg, was Organisation heißt, das ist, man trennt den Körper vom Geist, ohne ihm jedoch die Möglichkeit, zu Vorstellungen zu gelangen und Handlungen in der Körperwelt hervorzubringen, abzuschneiden, und untersucht dann, wie er in Wirkung gekommen, wie er seine Kräfte entwickelt, was für Schritte er wohl zu seiner Vollkommenheit würde getan haben; das Resultat dieser Untersuchung muss durch Facta bestätigt werden. Man übersieht also die wirkliche Bildung des einzelnen Menschen und wirft einen Blick über die Entwicklung des gesamten Geschlechts. Zuerst also den abstrakten Fall: Es ist Vorstellungskraft und Wille da, es ist Kreis der Wirkung da und freier Übergang von Seele zu Welt, von Welt zu Seele. Fragt sich nun, wie wird er wirken? 

§ 8

Die Seele außer Verbindung mit dem Körper

   Wir können keinen Begriff setzen, ohne einen vorhergehenden Willen, ihn zu machen; keinen Willen, ohne die Erfahrung unsers durch diese Handlung verbesserten Zustands, ohne Empfindung. Keine Empfindung ohne vorhergehende Idee (denn wir schlossen ja zugleich mit dem Körper auch die körperlichen Empfindungen aus), also keine Idee ohne Idee. 

   Nun betrachte man das Kind, das hieße nach der Voraussetzung einen Geist, der die Fähigkeit, Ideen zu formieren, in sich begreift, aber diese Fähigkeit jetzt zum ersten Mal in Übung bringen soll. Was wird ihn zum Denken bestimmen, wenn es nicht die daraus entspringende angenehme Empfindung ist, was kann ihm die Erfahrung dieser angenehmen Empfindung verschafft haben? Wir sahen ja eben, dass dies wieder nichts als Denken sein konnte, und er soll nun zum ersten Mal denken. Ferner, was kann ihn zur Betrachtung der Welt einladen? Nichts anders als die Erfahrung ihrer Vollkommenheit, insofern sie seinen Trieb zur Aktivität befriedigt und diese Befriedigung ihm Vergnügen gewährt; was kann ihn zu Übung seiner Kräfte determinieren? Nichts als die Erfahrung ihres Daseins, aber alle diese Erfahrungen soll er ja zum ersten Mal machen. – Er müsste also von Ewigkeit her tätig gewesen sein, und dieses ist wider den angenommenen Fall, oder er wird ewig niemals in Tätigkeit kommen, gleichwie die Maschine ohne den Stoß von außen träg und ruhig bleibt. 

§ 9 

In Verbindung

   Jetzt setze man zu dem Geist das Tier. Man verflechte diese beiden Naturen so innig, als sie wirklich verflochten sind, und lasse ein unbekanntes Etwas, aus der Ökonomie des tierischen Leibes geboren, die Empfindungskraft anfallen – man versetze die Seele in den Zustand des physischen Schmerzens. Das war der erste Stoß, der erste Lichtstrahl in die Schlummernacht der Kräfte, tönender Goldklang auf die Laute der Natur. Jetzt ist Empfindung da, und Empfindung war es ja auch nur allein, was wir vorhin vermissten. Diese Art von Empfindung scheint mit Absicht recht dazu gemacht zu sein, alle jene Schwierigkeiten zu heben. Dort konnten wir keine herausbringen, weil wir keine Idee voraussetzen durften; hier vertritt die Modifikation in dem körperlichen Werkzeug die Stelle der Ideen, und so hilft tierische Empfindung das innere Uhrwerk des Geists, wenn ich so sagen darf, in den Gang bringen. Der Übergang von Schmerz zu Abscheu ist Grundgesetz der Seele. Der Wille ist tätig, und die Tätigkeit einer einzigen Kraft ist hinlänglich, alle übrigen in Wirkung zu setzen. Die nachfolgenden Operationen entwickeln sich von selbst und gehören auch nicht in dieses Kapitel.

§ 10

Aus der Geschichte des Individuums

   Nun verfolge man das Seelenwachstum des einzelnen Menschen in Beziehung auf den zu erweisenden Satz, und gebe Acht, wie sich alle seine Geistesfähigkeiten aus sinnlichen Trieben entwickeln. 

  1. Das Kind. Noch ganz Tier, oder besser: Mehr oder auch weniger als Tier; menschliches Tier. (Denn dasjenige Wesen, das einmal Mensch heißen sollte, darf niemals nur Tier gewesen sein.) Elender als ein Tier, weil es auch nicht einmal Instinkt hat. Die Tiermutter darf ihr Junges eh verlassen, als die Mutter ihr Kind. Der Schmerz mag ihm wohl Geschrei auspressen, aber er wird es niemals auf die Quelle desselben aufmerksam machen. Die Milch mag ihm wohl Vergnügen gewähren, aber sie wird niemals von ihm gesucht werden. Es ist ganz leidend – 

„Sein Denken steigt nur noch bis zum Empfinden,
Sein ganzes Kenntnis, ist Schmerz, Hunger und die Binden.“ 

  1. Der Knabe. Hier ist schon Reflexion, aber immer nur in Bezug auf Stillung tierischer Triebe. „Er lernt“, wie Garve sagt3), „die Dinge anderer Menschen und seine Handlungen gegen sie erstlich dadurch schätzen, weil sie ihm (sinnliches) Vergnügen gewähren.“ Liebe zur Arbeit, Liebe zu den Eltern, zu Freunden, ja selbst Liebe zur Gottheit geht durch den Weg der Sinnlichkeit in seine Seele. „Die allein ist die Sonne,“ wie Garve an einem andern Ort anmerkt4), „die durch sich selbst leuchtet und wärmt, alle übrigen Gegenstände sind dunkel und kalt; aber sie können auch erleuchtet und erwärmt werden, wenn sie mit ihr in eine solche Verbindung treten, dass sie die Strahlen derselben bekommen können.“ Die Güter des Geists erhalten beim Knaben nur durch Übertragung einigen Wert, sie sind geistiges Mittel zu tierischem Zweck.
  2. Jüngling und Mann. Oftmalige Wiederholung dieser Schlüsse macht sie nach und nach zur Fertigkeit, und Übertragung will in dem Mittel selbst Schönheit gefunden haben. Er wird gerner darauf verweilen, ohne zu wissen warum? Er wird unvermerkt hingezogen werden, darüber zu denken. Jetzt können schon die Strahlen der geistigen Schönheit selbst seine offene Seele rühren; das Gefühl seiner Kraftäußerung ergötzt ihn und flößt ihm Neigung zu dem Gegenstand ein, der bisher nur Mittel war; der erste Zweck ist vergessen. Aufklärung und Ideenbereicherung decken ihm zuletzt die ganze Würde geistiger Vergnügungen auf – das Mittel ist höchster Zweck worden. 

Dies lehrt mehr oder weniger die Individualgeschichte jedes Menschen, der nur einige Bildung hat, und einen bessern Weg konnte wohl die Weisheit nicht wählen, den Menschen zu führen; wird nicht auch jetzt noch der Pöbel gegängelt wie unser Knabe? Und hat uns nicht der Prophet aus Medina ein auffallend deutliches Beispiel zurückgelassen, wie man den rohen Sinn der Sarazenen im Zügel halten sollte? 

   (Hierüber kann nichts Vortrefflicheres gesagt werden, als was Garve in seinen Anmerkungen zu dem Kapitel über die natürlichen Triebe in Fergusons Moralphilosophie auf folgende Art entwickelt hat: „Der Trieb der Erhaltung und der Reiz der sinnlichen Lust setzt zuerst den Menschen wie das Tier in Tätigkeit; er lernt die Dinge andrer Menschen und seine Handlungen gegen sie erstlich dadurch schätzen, weil sie ihm Vergnügen verschaffen. Sowie sich die Anzahl der Dinge erweitert, deren Wirkungen er erfährt, so breiten sich seine Begierden aus; sowie sich der Weg verlängert, auf welchem er zu diesen Wirkungen gelangt, so werden seine Begierden künstlicher. Hier ist die erste Grenzscheidung zwischen Mensch und Tier, und hier findet sich selbst ein Unterschied zwischen einer Tierart und der andern. Bei wenigen Tieren folgt die Handlung des Fressens unmittelbar auf die Begierde des Hungers; die Hitze der Jagd oder der Fleiß des Sammelns geht vorher. Aber bei keinem Tier erfolgt die Befriedigung der Begierde so spät auf die Anstalten, die es zu diesem Ende macht, als bei dem Menschen; bei keinem wird die Bestrebung des Tiers durch eine so lange Kette von Mitteln und Absichten fortgeführt, ehe sie bis an dieses letzte Glied gelangt. Wie weit sind die Arbeiten des Handwerksmannes oder des Ackerbauers, wenn sie gleich alle auf nichts weiter abzielen, als ihm Brot oder ein Kleid zu verschaffen, doch von diesem Ziel entfernt? Aber das ist noch nicht alles. Wenn die Mittel der Erhaltung für den Menschen, durch Errichtung der Gesellschaft, reichlicher werden; wenn er Überfluss für sich findet, zu dessen Herbeischaffung er nicht seine ganze Zeit und Kräfte braucht; wenn er zugleich durch die Mitteilung der Ideen aufgeklärt wird: Dann fängt er an, einen Endzweck seiner Handlung in sich selbst zu finden; dann bemerkt er, dass, wenn er auch völlig satt, bekleidet, unter einem guten Dach, mit allem Hausgeräte versehen ist, doch noch für ihn etwas zu tun übrig bleibe. – Er geht noch einen Schritt weiter; er wird gewahr, dass in diesen Handlungen selbst, wodurch der Mensch sich Nahrung und Bequemlichkeit verschafft hat, insofern sie aus gewissen Kräften eines Geistes entstehen, insofern sie diese Kräfte üben, ein höheres Gut liege, als in den äußern Endzwecken selbst, die durch sie erreicht werden. Von diesem Augenblick an arbeitet er zwar in Gesellschaft mit dem übrigen menschlichen Geschlecht und mit dem Reich aller lebendigen Wesen dazu, sich zu erhalten und sich und seinen Freunden die Hilfsmittel des physischen Lebens zu verschaffen; – denn was wollte er anders tun? welche andere Sphäre von Tätigkeit könnte er sich schaffen, wenn er aus dieser herausginge? Aber er weiß nun, dass die Natur nicht sowohl diese vielen Triebe im Menschen erweckt hat, um ihm jene Bequemlichkeiten zu gewähren, als ihm vielmehr den Reiz jener Vergnügen und Vorteile aufstelle, um diese Triebe in Bewegung zu setzen; um einem denkenden Wesen Materie zu Vorstellungen, einem empfindlichen Geist Stoff zu Empfindungen, einem wohlwollenden Geist Mittel der Guttätigkeit, einem tätigen Gelegenheit zu Beschäftigungen zu geben. – Dann nimmt jede Sache, leblose und lebendige, eine andere Gestalt für ihn an. Die Gegenstände und Verändernden wurden zuerst von ihm nur angesehen, insofern sie ihm nur Vergnügen oder Verdruss machen; jetzt, insofern sie Handlungen und Äußerungen seiner Vollkommenheit veranlassen. In jener Betrachtung sind die Vorfälle bald gut, bald böse; in dieser sind sie alle auf gleiche Weise gut. Denn es ist keiner, wo nicht die Ausübung einer Tugend oder die Beschäftigung einer besondern Fähigkeit möglich wäre. – Zuerst liebte er die Menschen, weil er glaubte, dass sie ihm nutzen können; jetzt liebt er sie noch mehr, weil er das Wohlwollen für den Zustand eines vollkommenen Geistes hält.“) 

§ 11

Aus der Geschichte des Menschengeschlechts

   Nun noch ein gewagterer Blick über die Universalgeschichte des ganzen menschlichen Geschlechts – von seiner Wiege an bis zu seinem männlichen Alter – und die Wahrheit des bisher Gesagten wird in ihrem vollesten Licht stehen. 

   Hunger und Blöße haben den Menschen zuerst zum Jäger, Fischer, Viehhirten, Ackermann und Baumeister gemacht. Wollust stiftete Familien, und Wehrlosigkeit der Einzelnen zog Horden zusammen. Hier schon die ersten Wurzeln der geselligen Pflichten. Bald musste der anwachsenden Menschenmenge der Acker zu arm werden, der Hunger zerstreute sie in ferne Klimate und Lande, die dem forschenden Bedürfnis ihre Produkte enthüllten, und sie neue Raffinements, sie zu bearbeiten und ihrem schädlichen Einfluss zu begegnen, lehrten. Diese einzelnen Erfahrungen gingen durch Tradition vom Großvater zum Urenkel über und wurden erweitert. Man lernte die Kräfte der Natur wider sie selbst benutzen, man brachte sie in neue Verhältnisse und erfand – hier schon die ersten Wurzeln der einfachen und heilsamen Künste. Zwar immer nur Kunst und Erfindung für das Wohl des Tieres, aber doch Übung der Kraft, doch Gewinn an Kenntnis, und – an eben dem Feuer, woran der rohe Naturmensch seine Fische bratete, spähte nachher Boerhave in die Mischungen der Körper; aus eben dem Messer, mit dem der Wilde sein Wildbret zerlegte, erfand Lionet dasjenige, womit er die Nerven der Insekten aufdeckte; mit eben dem Zirkel, mit dem man anfangs nur Hufen maß, misst Newton Himmel und Erde. So zwang der Körper den Geist, auf die Erscheinungen um ihn her zu achten, so machte er ihm die Welt interessant und wichtig, weil er sie ihm unentbehrlich machte. Der Drang einer innern tätigen Natur, verbunden mit der Dürftigkeit der mütterlichen Gegend, lehrte unsere Stammväter kühner denken und erfand ihnen ein Haus, worin sie im Geleit der Gestirne auf Flüssen und Ozeanen sicher dahin glitten und neuen Zonen entgegenschifften. – 

Fluctibus ignotis insultavere carinae. 

   Hier wiederum neue Produkte, neue Gefahren, neue Bedürfnisse, neue Anstrengungen des Geistes. Die Kollision der tierischen Triebe stößt Horden wider Horden, schmiedet das rohe Erz zum Schwert, zeugt Abenteurer, Helden und Despoten. Städte werden befestiget, Staaten errichtet, mit den Staaten entstehen bürgerliche Pflichten und Rechte, Künste, Ziffern, Gesetzbücher, schlaue Priester – und Götter. 

   Und nun die Bedürfnisse ausgeartet in Luxus – welch unermessliches Feld eröffnet sich unserm Auge! Jetzt werden die Adern der Erde durchwühlt, jetzt wird der Grund des Meeres betreten, Handel und Wandel blühen – 

Latet sub classibus aequor. 

Der Ost wird in West, der West in Ost bewundert, die Geburten des Auslands gewöhnen sich unter künstlichen Himmeln, und die Gartenkunst bringt die Produkte von drei Weltteilen in einem Garten zusammen. Künstler lernen der Natur ihre Werke ab, Töne schmelzen die Wilden, Schönheit und Harmonie veredeln Sitten und Geschmack, und die Kunst geleitet zu Wissenschaft und Tugend hinüber. „Der Mensch“, sagt Schlözer5), „dieser mächtige Untergott, räumt Felsen aus der Bahn, gräbt Seen ab und pflügt, wo man ansonsten schiffte. Durch Kanäle trennt er Weltteile und Provinzen voneinander, leitet Ströme zusammen und führet sie in Sandwüsten hin, die er dadurch in lachende Fluren verwandelt; er plündert dreien Weltteilen ihre Produkte ab und versetzt sie in den vierten. Selbst Klima, Luft und Witterung gehorchen seiner Macht. Indem er Wälder ausreutet und Sümpfe austrocknet, so wird ein heiterer Himmel über ihm, Nässe und Nebel verlieren sich, die Winter werden sanfter und kürzer, die Flüsse frieren nicht mehr zu.“ – Und der Geist verfeinert sich mit dem seinem Klima. 

   Der Staat beschäftiget den Bürger für die Bedürfnisse und Bequemlichkeiten des Lebens. Arbeitsamkeit gibt dem Staat Sicherheit und Ruhe von außen und innen, die dem Denker und Künstler jene fruchtbare Muße gewährt, wodurch das Zeitalter des Augusts zum goldenen Alter geworden. Jetzt nehmen die Künste einen kühneren ungehinderten Schwung, jetzt gewinnen die Wissenschaften ein reines geläutertes Licht, Naturgeschichte und Physik stürzen den Aberglauben, die Geschichte reicht den Spiegel der Vorwelt, und die Philosophie lacht über die Torheit der Menschen. Wie aber nun der Luxus, in Weichlichkeit und Schwelgerei ausgeartet, in den Gebeinen der Menschen zu toben anfängt und Seuchen ausbrütet und die Atmosphäre verpestet, da eilt der bedrängte Mensch von einem Reich der Natur zum andern, die lindernden Mittel auszuspähen, da findet er die göttliche Rinde der China, da gräbt er aus den Eingeweiden der Berge den mächtig wirkenden Merkur und presst den kostbaren Saft aus dem orientalischen Mohn. Die verhohlensten Winkel der Natur werden durchsucht, die Scheidekunst zertrümmert die Produkte in ihre letzten Elemente und schafft sich eigene Welten, Goldmacher bereichern die Naturgeschichte, der mikroskopische Blick eines Swammerdamms ertappt die Natur bei ihren geheimsten Prozessen. Der Mensch geht noch weiter. Not und Neugierde überspringen die Schranken des Aberglaubens, er ergreift mutig das Messer – und hat das größte Meisterstück der Natur, den Menschen entdeckt. So musste das Schlimmste das Größte erreichen helfen, so musste uns Krankheit und Tod drängen zum gnvJi seauton. Die Pest bildete unsere Hippokrate und Sydenhame, wie der Krieg Generale gebar, und der einreißenden Lustseuche haben wir eine totale Reformation des medizinischen Geschmacks zu verdanken. 

   Wir wollten den rechtmäßigen Genuss der Sinnlichkeit auf die Vollkommenheit der Seele zurückführen, und wie wunderbar drehte sich der Stoff unter unsern Händen! Wir fanden, dass auch ihr Übermaß, ihr Missbrauch im Ganzen die Realitäten der Menschheit befördert hat. Die Verirrungen vom ersten Zwecke der Natur, Kaufleute, Eroberer und Luxus haben unstreitig die Schritte dahin unendlich beschleunigt, die eine einfachere Lebensart regelmäßiger wohl, aber auch langsam genug würde gemacht haben. Man halte die alte Welt gegen die neue! Dort waren die Begierden einfach, und ihre Befriedigung leicht; aber wie abscheulich wurde auch über die Natur und ihre Gesetze geurteilt! Jetzt ist sie durch tausend Krümmungen erschwert, aber welch volles Licht hat sich über alle Begriffe verbreitet! 

   Noch einmal also: Der Mensch musste Tier sein, ehe er wusste, dass er ein Geist war; er musste im Staub kriechen, ehe er den Newtonschen Flug durchs Universum wagte. Der Körper also der erste Sporn zur Tätigkeit; Sinnlichkeit die erste Leiter zur Vollkommenheit. 

Tierische Empfindungen begleiten die geistigen

§ 12

Erstes Gesetz

   Der Verstand des Menschen ist äußerst beschränkt, und darum müssen es auch notwendig alle Empfindungen sein, die aus seiner Tätigkeit resultieren. Diesen also einen größeren Schwung zu geben und den Willen mit gedoppelter Kraft zum Vollkommenen hinzuziehen und vom Übel zurück zu reißen, wurden beide Naturen, geistige und tierische, also eng ineinander verschlungen, dass ihre Modifikationen sich wechselweise mitteilen und verstärken. Daraus erwächst nun ein Fundamentalgesetz der gemischten Naturen, das, in seine letzten Grundteile aufgelöst, ungefähr also lautet: Die Tätigkeiten des Körpers entsprechen den Tätigkeiten des Geistes; d.h. jede Überspannung von Geistestätigkeit hat jederzeit eine Überspannung gewisser körperlicher Aktionen zur Folge, so wie das Gleichgewicht der ersteren oder die harmonische Tätigkeit der Geisteskräfte mit der vollkommensten Übereinstimmung der letztern vergesellschaftet ist. Ferner: Trägheit der Seele macht die körperlichen Bewegungen träg, Nichttätigkeit der Seele hebt sie gar auf. Da nun Vollkommenheit jederzeit mit Lust, Unvollkommenheit mit Unlust verbunden ist, so kann man dieses Gesetz auch also ausdrücken: Geistige Lust hat jederzeit eine tierische Lust, geistige Unlust jederzeit eine tierische Unlust zur Begleiterin.

§ 13

Geistiges Vergnügen befördert das Wohl der Maschine

   Also eine Empfindung, die das ganze Seelenwesen einnimmt, erschüttert in eben dem Grad den ganzen Bau des organischen Körpers. Herz, Adern und Blut, Muskelfasern und Nerven, von jenen mächtigen wichtigen, die dem Herzen den lebendigen Schwung der Bewegung geben, bis hinaus zu jenen unbedeutenden geringen, die die Härchen der Haut spannen, nehmen daran Teil. Alles gerät in heftigere Bewegung. War die Empfindung angenehm, so werden alle jene Teile einen höhern Grad harmonischer Tätigkeit haben, das Herz wird frei, lebhaft und gleichförmig schlagen, das Blut wird ungehemmt, mild, oder feurig rasch, je nachdem der Affekt*von der sanften oder heftigen Art ist, durch die weichen Kanäle fließen, Koktion, Sekretion und Exkretion wird frei und ungehindert von statten gehen, die reizbaren Fasern werden im milden Dampfbad geschmeidig spielen, so Reizbarkeit als Empfindlichkeit wird durchaus erhöht sein. Darum ist der Zustand der größten augenblicklichen Seelenlust augenblicklich auch der Zustand des größten körperlichen Wohls. 

   So viel dieser Partialtätigkeiten sind (und ist nicht jeder Puls das Resultat von vielleicht Tausenden), so viel dunkle Sensationen werden sich zumal vor die Seele drängen, wovon jede Vollkommenheit anzeigt. Aus der Verworrenheit dieser aller bildet sich nun die Totalempfindung der tierischen Harmonien, d. h. die höchstzusammengesetzte Empfindung von tierischer Lust, die sich an die ursprüngliche intellektuelle oder moralische gleichsam anreiht und solche durch diesen Zutritt unendlich vergrößert. So ist demnach jeder angenehme Affekt* die Quelle unzähliger körperlicher Lüste. 

   Dieses bestätigen am augenscheinlichsten die Beispiele der Kranken, die die Freude kuriert hat. Man bringe einen, den das fürchterliche Heimweh bis zum Skelett verdorren gemacht hat, in sein Vaterland zurück, er wird sich in blühender Gesundheit verjüngen. Man trete in die Gefangenhäuser, wo Unglückliche seit zehn und zwanzig Jahren im faulen Dampf ihres Unrats wie begraben liegen und kaum noch Kraft finden, von der Stelle zu gehen, und verkündige ihnen auf einmal Erlösung. Das einzige Wort wird jugendliche Kraft durch ihre Glieder gießen, die erstorbenen Augen werden Leben und Feuer funkeln. Die Seefahrer, die der Brot- und Wassermangel auf der ungewissen See siech und elend niedergeworfen hat, werden durch das einzige Wort: Land! Das der Steuermann vom Verdeck erspäht, halb gesund, und gewiss würde der sehr irren, der hier den frischen Lebensmitteln alle Wirkung zuschreiben wollte. Der Anblick einer geliebten Person, nach der er lange geschmachtet hat, hält die fliehende Seele des Agonizanten noch auf, er wird kräftiger und augenblicklich besser. Wahr ist es, dass die Freude das Nervensystem in lebhaftere Wirksamkeit setzen kann, als alle Herzstärkungen, die man aus Apotheken holen muss, und selbst inveterierte Stockungen in den labyrinthischen Gängen der Eingeweide, die weder die Rubia durchdringt, noch selbst der Merkur durchreißt, durch sie zerteilt worden sind. Wer begreift nun nicht, dass diejenige Verfassung der Seele, die aus jeder Begebenheit Vergnügen zu schöpfen und jeden Schmerz in die Vollkommenheit des Universums aufzulösen weiß, auch den Verrichtungen der Maschine am zuträglichsten sein muss? Und diese Verfassung ist die Tugend. 

§ 14

Geistiger Schmerz untergräbt das Wohl der Maschine

   Auf eben diese Weise erfolgt das Gegenteil beim unangenehmen Affekt*; die Ideen, die sich beim Zornigen oder Erschrockenen so intensiv stark herausheben, könnte man mit eben dem Recht, als Plato die Leidenschaften Fieber der Seele nannte, als Konvulsionen des Denkorgans betrachten. Diese Konvulsionen pflanzen sich schnell durch den ganzen Umriss des Nervengebäudes fort, bringen die Kräfte des Lebens in jene Missstimmung, die seinen Flor vernichtet und alle Aktionen der Maschine aus dem Gleichgewicht bringt. Das Herz schlägt ungleich und ungestüm; das Blut wird in die Lungen gepresst, wenn in den Extremitäten kaum so viel übrig bleibt, den verlornen Puls zu erhalten. Alle Prozesse der tierischen Chemie durchkreuzen einander. Die Scheidungen überstürzen sich, die gutartigen Säfte verirren und wirken feindlich in fremden Gebieten, wenn zu gleicher Zeit die bösartigen, die im Unrat dahingeschwemmt werden sollten, in den Kern der Maschine zurückfallen. Mit einem Wort: Der Zustand des größten Seelenschmerzens ist zugleich der Zustand der größten körperlichen Krankheit. 

   Die Seele wird durch tausend dunkle Sensationen vom drohenden Ruin ihrer Werkzeuge unterrichtet und von einer ganzen Schmerzempfindung übergossen, die sich an die ursprüngliche geistige anheftet und solcher einen desto schärfern Stachel gibt. 

§ 15

Beispiele

   Tiefe chronische Seelenschmerzen, besonders wenn sie von einer starken Anstrengung des Denkens begleitet sind, worunter ich vorzüglich denjenigen schleichenden Zorn, den man Indignation heißt, rechne, nagen gleichsam an den Grundfesten des Körpers und trocknen die Säfte des Lebens aus. Diese Leute sehen abgezehrt und bleich, und der innere Gram verrät sich aus den hohlen, tief liegenden Augen. „Ich muss Leute um mich haben, die fett sind“, sagt Cäsar, „Leute mit runden Backen, und die des Nachts schlafen. Der Cassius dort hat ein hageres, hungriges Gesicht; er denkt zu viel; dergleichen Leute sind gefährlich.“ Furcht, Unruh, Gewissensangst, Verzweiflung wirken nicht viel weniger als die hitzigsten Fieber. Dem in Angst gejagten Richard fehlt die Munterkeit, die er sonst hat, und er wähnt sie mit einem Glas Wein wieder zu gewinnen. Es ist nicht Seelenleiden allein, das ihm seine Munterkeit verscheucht, es ist eine ihm aus dem Kern der Maschine aufgedrungene Empfindung von Unbehaglichkeit, es ist eben diejenige Empfindung, welche die bösartigen Fieber verkündigt. Der von Freveln schwer gedrückte Moor, der sonst spitzfindig genug war, die Empfindungen der Menschlichkeit durch Skelettisierung der Begriffe in nichts aufzulösen, springt eben jetzt bleich, atemlos, den kalten Schweiß auf seiner Stirn, aus einem schrecklichen Traum auf. Alle die Bilder zukünftiger Strafgerichte, die er vielleicht in den Jahren der Kindheit eingesaugt und als Mann obsopiert hatte, haben den umnebelten Verstand unter dem Traum überrumpelt. Die Sensationen sind allzu verworren, als dass der langsamere Gang der Vernunft sie einholen und noch einmal zerfasern könnte. Noch kämpft sie mit der Phantasie, der Geist mit den Schrecken des Mechanismus6). – 

Moor. Nein, ich zittere nicht. War’s doch ledig ein Traum. – Die Toten stehen noch nicht auf – Wer sagt, dass ich zittere und bleich bin? Es ist mir ja so leicht, so wohl. 

Bed. Ihr seid todesbleich, eure Stimme ist bang und lallend. 

Moor. Ich habe das Fieber. Ich will morgen zur Ader lassen. Sage du nur, wenn der Priester kommt, ich habe das Fieber. 

Bed. O, Ihr seid ernstlich krank. 

Moor. Ja freilich, freilich, das ist’s alles; und Krankheit verstört das Gehirn und brütet tolle, wunderliche Träume – Träume bedeuten nichts – Pfui, pfui der weiblichen Feigheit! – Träume kommen aus dem Bauch, und Träume bedeuten nichts – Ich hatte so eben einen lustigen Traum –

(Er sinkt ohnmächtig nieder.)

Hier bringt das plötzlich auffahrende Integralbild des Traums das ganze System der dunkeln Ideen in Bewegung und rüttelt gleichsam den ganzen Grund des Denkorgans auf. Aus der Summe aller entspringt eine ganze äußerst zusammengesetzte Schmerzempfindung, die die Seele in ihren Tiefen erschüttert und den ganzen Bau der Nerven per Consensum lähmt. 

   Die Schauer, die denjenigen ergreifen, der auf eine lasterhafte Tat ausgeht oder eben eine ausgeführt hat, sind nichts anders, als eben der Horror, der den Febricitanten schüttelt und welcher auch auf eingenommene widerwärtige Arzneien empfunden wird. Die nächtlichen Jaktationen derer, die von Gewissensbissen gequält werden, und die immer mit einem febrilischen Aderschlag begleitet sind, sind wahrhaftige Fieber, die der Konsens der Maschine mit der Seele veranlasst, und wenn Lady Macbeth im Schlaf geht, so ist sie eine phrenitische Delirantin. Ja, schon der nachgemachte Affekt* macht den Schauspieler augenblicklich krank, und wenn Garrick seinen Lear oder Othello gespielt hatte, so brachte er einige Stunden in gichterischen Zuckungen auf dem Bett zu. Auch die Illusion des Zuschauers, die Sympathie mit künstlichen Leidenschaften hat Schauer, Gichter und Ohnmachten gewirkt. 

   Ist also nicht derjenige, der mit der bösen Laune geplagt ist und aus allen Situationen des Lebens Gift und Galle zieht; ist nicht der Lasterhafte, der in einem steten chronischen Zorn, dem Hass, lebt, der Neidische, den jede Vollkommenheit seines Mitmenschen martert, sind nicht alle diese die größten Feinde ihrer Gesundheit? Sollte das Laster noch nicht genug Abschreckendes haben, wenn es mit der Glückseligkeit auch die Gesundheit vernichtet? 

§ 16

Ausnahmen

   Aber auch der angenehme Affekt* hat getötet, auch der unangenehme hat Wunderkuren getan? – Beides lehrt die Erfahrung; sollte das die Grenzen des aufgestellten Gesetzes verrücken? 

   Die Freude tötet, wenn sie zur Ekstase hinaufsteigt, die Natur erträgt den Schwung nicht, in den in einem Moment das ganze Nervengebäude gerät, die Bewegung des Gehirns ist nicht Harmonie mehr, sie ist Konvulsion; ein höchster augenblicklicher Vigor, der aber auch gleich in den Ruin der Maschine übergeht, weil er über die Grenzlinie der Gesundheit gewichen ist (denn schon in die Idee der Gesundheit ist die Idee einer gewissen Temperatur der natürlichen Bewegungen wesentlich eingeflochten); auch die Freude der endlichen Wesen hat ihre Schranken, sowie der Schmerz, diese darf sie nicht überschreiten, oder sie muss untergehen. 

   Was den zweiten Fall betrifft, so hat man viele Beispiele, dass ein mäßiger Grad des Zorns, der Gewalt hat, frei aufzubrausen, die langwierigsten Verstopfungen durchrissen, dass der Schrecken, z.E. über eine Feuersbrunst, alte Gliederschmerzen und unheilbare Lähmungen plötzlich gehoben hat. – Aber auch die Dysenterie hat Verstopfungen der Pfortader geschmolzen, auch die Krätze hat Melancholien und Tobsuchten geheilt – ist die Krätze darum weniger Krankheit, oder die Ruhr darum Gesundheit? 

§ 17

Trägheit der Seele macht die Bewegungen der Maschine träger

   Da die Wirksamkeit des Geistes während den Geschäften des Tags nach dem Zeugnis des Herrn von Haller den abendlichen Puls zu beschleunigen vermag, wird ihre Trägheit ihn nicht schwächen, wird ihre Nichttätigkeit ihn vielleicht nicht gar aufheben müssen? Denn obschon die Bewegung des Bluts nicht so sehr von der Seele abhängig zu sein scheint, so lässt sich doch nicht ohne allen Grund schließen, dass das Herz, welches doch immerhin den größten Teil seiner Kraft vom Gehirn entlehnt, notwendig, wenn die Seele die Bewegung des Gehirns nicht mehr unterhält, einen großen Kraftverlust erleiden müsse? – Das Phlegma führt einen trägen, langsamen Puls, das Blut ist wässerig und schleimig, der Kreislauf durch den Unterleib leidet Not. Die Stupiden, die uns Muzell7)beschrieben hat, atmeten langsam und schwer, hatten weder Trieb zum Essen und Trinken, noch zu den natürlichen Exkretionen, der Aderschlag war selten, alle Verrichtungen des Körpers waren schläfrig und matt. Die Erstarrung der Seele unter dem Schrecken, dem Erstaunen usw. wird zuweilen von einer allgemeinen Aufhebung aller physischen Tätigkeit begleitet. War die Seele die Ursache dieses Zustands, oder war es der Körper, der die Seele in diese Erstarrung versetzte? Aber diese Materie führt uns auf Spitzfindigkeiten und muss ja auch gerade hier nicht entwickelt werden. 

§ 18

Zweites Gesetz

   Nun ist das, was von Übertragung der geistigen Empfindungen auf tierische gesagt worden, auch vom umgekehrten Fall, von Übertragung der tierischen auf die geistigen gültig. Krankheiten des Körpers, meistenteils die natürlichen Folgen der Unmäßigkeit, strafen an sich schon durch sinnlichen Schmerz; aber auch hier musste die Seele in ihrem Grundwesen angegriffen werden, dass der gedoppelte Schmerz ihr die Einschränkung der Begierden desto dringender einschärfe. Eben so musste zu dem sinnlichen Wohlgefühl der körperlichen Gesundheit auch die feinere Empfindung einer geistigen Realverbesserung treten, dass der Mensch umso mehr gespornt werde, seinen Körper im guten Zustande zu erhalten. So ist es also ein zweites Gesetz der gemischten Naturen, dass mit der freien Tätigkeit der Organe auch ein freier Fluss der Empfindungen und Ideen, dass mit der Zerrüttung derselbigen auch eine Zerrüttung des Denkens und Empfindens sollte verbunden sein. Also kürzer: Dass die allgemeine Empfindung tierischer Harmonie die Quelle geistiger Lust und die tierische Unlust die Quelle geistiger Unlust sein sollte. 

   Man kann in diesen verschiedenen Rücksichten Seele und Körper nicht gar unrecht zweien gleich gestimmten Saiteninstrumenten vergleichen, die nebeneinander gestellt sind. Wenn man eine Saite auf dem einen rührt und einen gewissen Ton angibt, so wird auf dem andern eben diese Saite freiwillig anschlagen und eben diesen Ton, nur etwas schwächer, angeben. So weckt, vergleichsweise zu reden, die fröhliche Saite des Körpers die fröhliche in der Seele, so der traurige Ton des ersten den traurigen in der zweiten. Dies ist die wunderbare und merkwürdige Sympathie, die die heterogenen Prinzipien des Menschen gleichsam zu einem Wesen macht, der Mensch ist nicht Seele und Körper, der Mensch ist die innigste Vermischung dieser beiden Substanzen. 

§ 19

Die Stimmungen des Geists folgen den Stimmungen des Körpers

   Daher die Schwere, die Gedankenlosigkeit, das mürrische Wesen, auf Überladungen des Magens, auf Exzesse in allen sinnlichen Lüsten; daher die wundertätigen Wirkungen des Weins bei denen, die ihn mit Mäßigkeit trinken. „Wenn ihr Wein getrunken habt“, sagt Bruder Martin, „so seid ihr alles doppelt, noch einmal so leicht denkend, noch einmal so leicht unternehmend, noch einmal so schnell ausführend.“ Daher die gute Laune, die Behaglichkeit bei heiterem und gesundem Wetter, die zwar einesteils auch in der Association der Begriffe, meistenteils aber in dem dadurch erleichterten Gang der natürlichen Aktionen ihren Grund hat. Diese Leute pflegen sich gemeiniglich des Ausdrucks zu bedienen: Ich spüre, dass mir wohl ist, und zu dieser Zeit sind sie auch zu allen Arbeiten des Geists mehr aufgelegt und haben ein offeneres Herz für die Empfindungen der Menschlichkeit und die Ausübung moralischer Pflichten. Eben dieses gilt von dem Nationalcharakter der Völker. Die Bewohner düsterer Gegenden trauern mit der sie umgebenden Natur; der Mensch verwildert in wilden stürmischen Zonen, lacht in freundlichen Lüften und fühlt Sympathie in gereinigten Atmosphären. Nur unter dem feinen griechischen Himmel gab es einen Homer, einen Plato und Phidias; dort nur standen Musen und Grazien auf, wenn das neblige Lappland kaum Menschen, ewig niemals ein Genie gebiert. Als unser Deutschland noch waldig, rau und sumpfig war, war der Deutsche ein Jäger, roh wie das Wild, dessen Fell er um seine Schultern schlug. Sobald die Arbeitsamkeit die Gestalt seines Vaterlands umänderte, fing die Epoche seiner Sittlichkeit an. Ich will nicht behaupten, dass das Klima die einzige Quelle des Charakters sei, aber gewiss muss, um ein Volk aufzuklären, eine Hauptrücksicht dahin genommen werden, seinen Himmel zu verfeinern. 

   Zerrüttungen im Körper können auch das ganze System der moralischen Empfindungen in Unordnung bringen und den schlimmsten Leidenschaften den Weg bahnen. Ein durch Wolllüste ruinierter Mensch wird leichter zu Extremen gebracht werden können, als der, der seinen Körper gesund erhält. Dies eben ist ein abscheulicher Kunstgriff derer, die die Jugend verderben, und jener Banditenwerber* muss den Menschen genau gekannt haben, wenn er sagt: „Man muss Leib und Seele verderben.“ Catilina war ein Wolllüstling, ehe er ein Mordbrenner wurde; und Doria hatte sich gewaltig geirrt, wenn er den wollüstigen Fiesco nicht fürchten zu dürfen glaubte. Überhaupt beobachtet man, dass die Bösartigkeit der Seele gar oft in kranken Körpern wohnt. 

   In den Krankheiten ist diese Sympathie noch auffallender. Alle Krankheiten von Bedeutung, diejenigen vorzüglich, die man die bösartigen nennt und die aus der Ökonomie des Unterleibs hervorgehen, kündigen sich mehr oder weniger mit einer sonderbaren Revolution im Charakter an. Damals, wenn sie im Stillen noch in den verborgenen Winkeln der Maschine schleichen und die Lebenskraft der Nerven untergraben, fängt die Seele an, den Fall ihres Gefährten in dunkeln Ahnungen voraus zu empfinden. Das ist mit ein großes Ingrediens zu demjenigen Zustand, den uns ein großer Arzt unter dem Namen der Vorschauer (Horrores) mit Meisterzügen geschildert hat. Daher die Morosität dieser Leute, davon niemand die Ursache weiß anzugeben, die Änderung ihrer Neigungen, der Ekel an allem, was ihnen sonst das Liebste war. Der Sanftmütige wird zänkisch, der Lacher mürrisch, und der sich vorher im Geräusch der geschäftigen Welt verlor, flieht den Anblick der Menschen und entweicht in düstere melancholische Stille. Unter dieser heimtückischen Ruhe rüstet sich die Krankheit zum tödlichen Ausbruch. Der allgemeine Tumult der Maschine, wenn die Krankheit mit offener Wut hervorbricht, gibt uns den redendsten Beweis von der erstaunlichen Abhängigkeit der Seele vom Körper an die Hand. Die aus tausend Schmerzgefühlen zusammengeronnene Empfindung des allgemeinen Umsturzes der Organe richtet im System ihrer geistigen Empfindungen eine fürchterliche Zerrüttung an. Die schrecklichsten Ideen leben wieder auf. Der Bösewicht, den nichts gerührt hat, unterliegt der Übermacht tierischer Schrecken. Der sterbende Winchester heult in wütender Verzweiflung. Die Seele scheint mit Fleiß nach allem zu haschen, was sie in noch tiefere Verfinsterung stürzt, und vor allen Trostgründen mit rasendem Widerwillen zurückzuschaudern. Der Ton der unangenehmen Empfindung ist herrschend, und wie dieser tiefe Schmerz der Seele aus den Zerrüttungen der Maschine entsprungen ist, so hilft er rückwärts diese Zerrüttungen heftiger und allgemeiner machen. 

§ 20

Einschränkung des Vorigen

   Aber man hat tägliche Beispiele von Kranken, die sich voll Mut über die Leiden des Körpers erheben, von Sterbenden, die mitten in den Bedrängnissen der kämpfenden Maschine fragen: Wo ist dein Stachel, Tod? Sollte die Weisheit, dürfte man einwenden, nicht vermögend sein, wider die blinden Schrecken des Organismus zu waffnen? Sollte, was noch mehr ist als Weisheit, sollte die Religion ihre Freunde so wenig gegen die Anfechtungen des Staubes beschützen können? Oder, welches eben so viel heißt, kommt es nicht auch auf den vorhergehenden Zustand der Seele an, wie sie die Alterationen der Lebensbewegungen aufnimmt? 

   Dieses nun ist eine unleugbare Wahrheit. Philosophie und noch weit mehr ein mutiger und durch die Religion erhobener Sinn sind fähig, den Einfluss der tierischen Sensationen, die das Gemüt des Kranken bestürmen, durchaus zu schwächen und die Seele gleichsam ans aller Kohärenz mit der Materie zu reißen. Der Gedanke an die Gottheit, die, wie durchs Universum, so auch im Tod webt, die Harmonie des vergangenen Lebens und die Vorgefühle einer ewig glücklichen Zukunft breiten ein volles Licht über alle ihre Begriffe, wenn die Seele des Toren und Ungläubigen von allen jenen dunkeln Fühlungen des Mechanismus umnachtet wird. Wenn auch unwillkürliche Schmerzen dem Christen und Weisen sich aufdrängen (denn ist er weniger Mensch?), so wird er selbst das Gefühl seiner zerfallenden Maschine in Wollust auflösen. – 

The Soul, secur'd in her existence, smiles
At the drawn dagger, and defies its point,
The stars shall fade away, the sun himself
Grow dim with age, and nature sink in years,
But thou shalt flourish in immortal youth,
Unhurt amidst the war of Elements,
The wreck of Matter, and the crush of Worlds. 

   Eben diese ungewöhnliche Heiterkeit der tödlich Kranken hat mehrmals auch eine physische Ursache zugrunde und ist äußerst wichtig für den praktischen Arzt. Man findet sie oft in Gesellschaft der tödlichsten Zeichen des Hippokrates, und ohne sie aus irgendeiner vorgängigen Krisis begreifen zu können; diese Heiterkeit ist bösartig. Die Nerven, welche während der Höhe des Fiebers auf das schärfste waren angefochten worden, haben jetzt ihre Empfindlichkeit verloren, die entzündeten Teile, weiß man wohl, hören auf zu schmerzen, sobald sie brandig werden, aber es wäre ein unglücklicher Gedanke, sich Glück zu wünschen, dass die Entzündungsperiode nunmehr überstanden sei. Der Reiz weicht von den toten Nerven zurück, und eine tödliche Indolenz lügt baldige Genesung. Die Seele befindet sich in der Illusion einer angenehmen Empfindung, weil sie einer lang anhaltenden, schmerzhaften los ist. Sie ist schmerzenfrei, nicht weil der Ton ihrer Werkzeuge wieder hergestellt ist, sondern weil sie den Misston nicht mehr empfindet. Die Sympathie hört auf, sobald der Zusammenhang wegfällt. 

§ 21

Weitere Aussichten in den Zusammenhang

   Wenn ich nun erst tiefer hineingehen – wenn ich vom Wahnsinn selbst, vom Schlummer, vom Stupor, von der fallenden Sucht und der Katalepsis usf. sprechen dürfte, wo der freie und vernünftige Geist dem Despotismus des Unterleibs unterworfen wird, wenn ich mich überhaupt in das große Feld der Hysterie und Hypochondrie ausbreiten dürfte, wenn es mir erlaubt wäre, von Temperamenten, Idiosynkrasien und Consensus zu reden, welches für Ärzte und Philosophen ein Abgrund ist – mit einem Wort: Wenn ich die Wahrheit des Bisherigen von dem Krankenbett aus beweisen wollte, welches immerhin eine Hauptschule des Psychologen ist, so würde mein Stoff sich ins Unendliche dehnen. Genug, deucht es mich, ist es nunmehr bewiesen, dass die tierische Natur mit der geistigen sich durchaus vermischt, und dass diese Vermischung Vollkommenheit ist. 

Körperliche Phänomene verraten die Bewegungen des Geists

§ 22

Physiognomik der Empfindungen

   Eben diese innige Korrespondenz der beiden Naturen stützt auch die ganze Lehre der Physiognomik. Durch eben diesen Nervenzusammenhang, welcher, wie wir hören, bei der Mitteilung der Empfindungen zugrunde liegt, werden die geheimsten Rührungen der Seele auf der Außenseite des Körpers offenbart, und die Leidenschaft dringt selbst durch den Schleier des Heuchlers. Jeder Affekt* hat seine spezifischen Äußerungen und, sozusagen, seinen eigentümlichen Dialekt, an dem man ihn kennt. Und zwar ist dies ein bewundernswürdiges Gesetz der Weisheit, dass jeder edle und wohlwollende den Körper verschönert, den der niederträchtige und gehässige in viehische Formen zerreißt. Je mehr sich der Geist vom Ebenbild der Gottheit entfernt, desto näher scheint auch die äußere Bildung dem Vieh zu kommen, und immer demjenigen am nächsten, das diesen Haupthang mit ihm gemein hat. So ladet das sanfte Außenbild des Menschenfreunds den Hilfsbedürftigen ein, wenn der trotzige Blick des Zornigen jeden zurückscheucht. Dies ist der unentbehrlichste Leitfaden im gesellschaftlichen Leben. Es ist merkwürdig, wie viel Ähnlichkeit die körperlichen Erscheinungen mit den Affekten* haben, Heldenmut und Unerschrockenheit strömen Leben und Kraft durch Adern und Muskeln, Funken sprühen aus den Augen, die Brust steigt, alle Glieder rüsten sich gleichsam zum Streit, der Mensch hat das Ansehen des Rosses. Schrecken und Furcht erlöschen das Feuer der Augen, die Glieder sinken kraftlos und schwer, das Mark scheint in den Knochen erfroren zu sein, das Blut fällt dem Herzen zur Last, allgemeine Ohnmacht lähmt die Instrumente des Lebens. Ein großer, kühner, erhabener Gedanke zwingt uns, auf die Zehen zu stehen, das Haupt empor zu richten, Nase und Mund weit aufzusperren. Das Gefühl der Unendlichkeit, die Aussicht in einen weiten offenen Horizont, das Meer und dergleichen dehnt unsere Arme aus, wir wollen ins Unendliche ausfließen. Mit Bergen wollen wir gen Himmel wachsen, auf Stürmen und Wellen dahinbrausen; gähe Abgründe stürzen uns schwindelnd hinunter; der Hass äußert sich im Körper gleichsam durch eine zurückstoßende Kraft, wenn im Gegenteil selbst unser Körper durch jeden Händedruck, jede Umarmung in den Körper des Freundes übergehen will, gleichwie die Seelen harmonisch sich mischen; der Stolz richtet den Körper auf, sowie die Seele steigt; Kleinmut senket das Haupt, die Glieder hängen; knechtische Furcht spricht aus dem kriechenden Gang; die Idee des Schmerzens verzerret unser Gesicht, wenn wollüstige Vorstellungen eine Grazie über den ganzen Körper verbreiten; so hat ferner der Zorn die stärksten Bande zerrissen und die Not beinahe die Unmöglichkeit überwunden. – Durch was für eine Mechanik, möcht’ ich nun fragen, geschieht es, dass gerade diese Bewegungen auf diese Empfindungen erfolgen, gerade diese Organe bei diesen Affekten* interessiert werden? Ist dies nicht eben so viel, als wollt’ ich wissen, warum gerade eine solche Verletzung der Bandhaut die untere Kinnlade erstarren mache? 

   Wird der Affekt*, der diese Bewegungen der Maschine sympathetisch erweckte, öfters erneuert, wird diese Empfindungsart der Seele habituell, so werden es auch diese Bewegungen dem Körper. Wird der zur Fertigkeit gewordene Affekt* dauernder Charakter, so werden auch diese konsensuellen Züge der Maschine tiefer eingegraben, sie bleiben, wenn ich das Wort von dem Pathologen entlehnen darf, deuteropathisch zurück und werden endlich organisch. So formiert sich endlich die feste perennierende Physiognomie des Menschen, dass es beinahe leichter ist, die Seele nachher noch umzuändern als die Bildung. In diesem Verstand also kann man sagen, die Seele bildet den Körper, ohne ein Stahlianer zu sein, und die ersten Jugendjahre bestimmen vielleicht die Gesichtszüge des Menschen durch sein ganzes Leben, so wie sie überhaupt die Grundlage seines moralischen Charakters sind. Eine untätige und schwache Seele, die niemals in Leidenschaften überwallt, hat gar keine Physiognomie, wenn nicht eben der Mangel derselben die Physiognomie der Simpel ist. Die Grundzüge, die die Natur ihnen anerschuf und die Nutrition vollendete, dauern unangetastet fort. Das Gesicht ist glatt, denn keine Seele hat darauf gespielt. Die Augbraunen behalten einen vollkommenen Bogen, denn kein wilder Affekt* hat sie zerrissen. Die ganze Bildung behält eine Runde, denn das Fett hat Ruhe in seinen Zellen; das Gesicht ist regelmäßig, vielleicht auch sogar schön, aber ich bedaure die Seele. 

   Eine Physiognomik organischer Teile, z.E. der Figur und Größe der Nase, der Augen, des Mundes, der Ohren usw., der Farbe der Haare, der Höhe des Halses usf. ist vielleicht nicht unmöglich, dürfte aber wohl sobald nicht erscheinen, wenn auch Lavater noch durch zehn Quartbände schwärmen sollte. Wer die launigen Spiele der Natur, die Bildungen, mit denen sie stiefmütterlich bestraft und mütterlich beschenkt hat, unter Klassen bringen wollte, würde mehr wagen, als Linné, und dürfte sich sehr in acht nehmen, dass er über der ungeheuren kurzweiligen Mannigfaltigkeit der ihm vorkommenden Originale nicht selbst eines werde. 

   (Noch eine Art von Sympathie verdient bemerkt zu werden, indem sie in der Physiologie von großer Erheblichkeit ist; ich meine die Sympathie gewisser Empfindungen mit den Organen, aus denen sie kamen. Ein gewisser Krampf des Magens erregte in uns die Empfindung von Ekel; die Reproduktion dieser Empfindung bringt rückwärts diesen Krampf hervor. Wie geschieht das?) 

Auch der Nachlass der tierischen Natur ist eine Quelle von Vollkommenheit

§ 23

Scheint sie zu hindern

   Noch kann man sagen, wenn auch der tierische Teil des Menschen ihm alle die großen Vorteile gewährt, von denen bisher gesprochen worden, so bleibe er doch immer noch in einer andern Rücksicht verwerflich. Nämlich die Seele ist also sklavisch an die Tätigkeit ihrer Werkzeuge gefesselt, dass die periodische Abspannung dieser letztern ihr eine tatenlose Pause vorschreibt und sie gleichsam periodisch vernichtet. Ich meine den Schlaf, der, wie man nicht leugnen kann, uns wenigstens den dritten Teil unsers Daseins raubt. Ferner ist unsere Denkkraft von den Gesetzen der Maschine äußerst abhängig, dass der Nachlass dieser letztern dem Gang der Gedanken plötzliches Halt auferlegt, wenn wir eben auf dem geraden offenen Pfade zur Wahrheit begriffen sind. Der Verstand darf kaum ein wenig auf einer Idee gehaftet haben, so versagt ihm die träge Materie; die Saiten des Denkorgans erschlaffen, wenn sie kaum ein wenig angestrengt worden; der Körper verlässt uns, wo wir sein am meisten bedürfen. Welch erstaunliche Schritte, dürfte man einwenden, würde der Mensch in Bearbeitung seiner Fähigkeiten machen, wenn er in einem Zustand ununterbrochener Intensität fortdenken könnte? Wie würde er jede Idee in ihre letzten Elemente zerfasern, wie würde er jede Erscheinung bis zu ihren verhohlensten Quellen verfolgen, wenn er sie unaufhörlich vor seiner Seele festhalten könnte? – Aber es ist nun einmal nicht so; warum ist es nicht so?

§ 24

Notwendigkeit des Nachlasses

   Folgendes wird uns auf die Spur der Wahrheit leiten.

  1. Die angenehme Empfindung war notwendig, den Menschen zur Vollkommenheit zu führen, und er ist ja nur darum vollkommen, dass er angenehm empfinde. 
  2. Die Natur eines endlichen Wesens macht die unangenehme Empfindung unvermeidlich. Das Übel exuliert nicht aus der besten Welt, und die Weltweisen wollen ja darin Vollkommenheit finden. 
  3. Die Natur eines gemischten Wesens bringt sie notwendig mit sich, weil sie größtenteils darauf ruhet. 

Also: Schmerz und Lust sind notwendig. 

   Schwerer scheint es, aber es ist dennoch nicht weniger wahr: 

  1. Jeder Schmerz wächst seiner Natur nach, so wie jede Lust, ins Unendliche. 
  2. Jeder Schmerz und jede Lust eines gemischten Wesens zielt auf seine Auflösung. 

§ 25

Erklärung

   Nämlich das will so viel sagen: Es ist ein bekanntes Gesetz der Ideenverbindung, dass eine jede Empfindung, welcher Art sie auch immer sei, also gleich eine andere ihrer Art ergreife und sich durch diesen Zuwachs vergrößere. Je größer und vielfältiger sie wird, desto mehr gleichartige weckt sie nach allen Direktionen des Denkorgans auf, bis sie nach und nach allgemein herrschend wird und die ganze Fläche der Seele einnimmt. So wächst demnach jede Empfindung durch sich selbst; jeder gegenwärtige Zustand des Empfindungsvermögens enthält den Grund eines nachfolgenden ähnlichen heftigern. Dies ist an sich klar. Nun ist, wie wir wissen, jede geistige Empfindung mit einer ähnlichen tierischen vergesellschaftet, d.i. mit andern Worten: Jede ist mit mehr oder wenigern Nervenbewegungen verknüpft, die sich nach dem Grad ihrer Stärke und Ausbreitung richten. Also: So wie die geistigen Empfindungen wachsen, müssen auch die Bewegungen im Nervensystem zunehmen. Dies ist nicht minder deutlich. Aber nun lehrt uns die Pathologie, dass kein Nerv jemals allein leide und sagen: Hie ist Übermaß von Kraft, eben so viel heiße als: Dort ist Mangel der Kraft. Also wächst zugleich noch jede Nervenbewegung durch sich selbst. Ferner ist oben gesagt worden, dass die Bewegungen des Nervensystems auf die Seele zurückwirken und die geistigen Empfindungen verstärken; die verstärkten Empfindungen des Geists vermehren und verstärken wiederum die Bewegungen der Nerven. Also ist hier ein Zirkel, und die Empfindung muss stets wachsen, und die Nervenbewegungen müssen in jedem Moment allgemeiner und heftiger werden. Nun wissen wir, dass die Bewegungen der Maschine, welche die Empfindung des Schmerzens verursachen, dem harmonischen Ton zuwiderlaufen, durch den sie erhalten wird, das heißt, dass sie Krankheit sind. Aber Krankheit kann nicht ins Unendliche wachsen, also endigen sie sich mit der totalen Destruktion der Maschine. In Absicht auf den Schmerz ist es also erwiesen, dass er auf den Tod des Subjekts abzielt. 

   Aber die Bewegungen der Nerven unter dem Zustand des angenehmen Affekts* sind ja so harmonisch, der Fortdauer der Maschine so günstig; der Zustand der größten Seelenlust ist ja der Zustand des größten körperlichen Wohls; – sollte nicht vielmehr umgekehrt der angenehme Affekt* den Flor des Körpers ins Unendliche verlängern?– Dieser Schluss ist sehr übereilt. In einem gewissen Grade der Moderation sind diese Nervenbewegungen heilsam und wirklich Gesundheit. Wachsen sie über diesen Grad hinaus, so können sie wohl höchste Aktivität, höchste augenblickliche Vollkommenheit sein, aber dann sind sie Exzess der Gesundheit, dann sind sie nicht mehr Gesundheit. Nur diejenige gute Beschaffenheit der natürlichen Aktionen heißen wir Gesundheit, in denen der Grund zukünftiger ähnlicher liegt, d.h. die die Vollkommenheit der darauf folgenden Aktionen befestigen; also gehört die Bestimmung des Fortdauernden wesentlich mit in den Begriff der Gesundheit. So hat z.E. der Körper des entkräftetsten Wollüstlings im Momente der Ausschweifung seine höchste Harmonie erreicht; aber sie ist nur augenblicklich, und ein desto tieferer Nachlass lehrt zur Genüge, dass Überspannung nicht Gesundheit war. So kann man denn mit Recht behaupten, dass der übertriebene Vigor der physischen Aktionen den Tod so sehr beschleunigt als die höchste Disharmonie oder die heftigste Krankheit. Und also reißen uns beide, Schmerz und Vergnügen, einem unvermeidlichen Tod entgegen, wenn nicht etwas vorhanden ist, das ihr Wachstum beschränkt. 

§ 26

Vortrefflichkeit dieses Nachlasses

   Und eben dieses leistet nun der Nachlass der tierischen Natur. Eben diese Einschränkung unserer zerbrechlichen Maschine, die unsern Gegnern einen so starken Einwurf wider ihre Vollkommenheit schien geliehen zu haben, musste es auch sein, die alle die übeln Folgen verbesserte, die der Mechanismus anderwärts unvermeidlich macht. Eben dieses Hinsinken, dieses Erschlaffen der Organe, worüber die Denker so klagen, verhindert, dass uns unsere eigene Kraft nicht in kurzer Zeit aufreibt, und lässt es nicht zu, dass unsere Affekte* in immer steigenden Graden zu unserm Verderben fort wachsen. Sie zeichnet jedem Affekt* die Perioden seines Wachstums, seiner Höhe und seiner Defervescenz, wenn er nicht gar in einer totalen Relaxation des Körpers erstirbt, die den empörten Geistern Zeit lässt, wiederum ihren harmonischen Ton zu nehmen, und den Organen, sich wiederum zu erholen. Daher die höchsten Grade des Entzückens, des Schreckens und des Zorns eben dieselben sind, nämlich Ermattung, Schwäche oder Ohnmacht. – 

   „Jetzo musst’ er entweder ohnmächtig niedersinken“ – Noch mehr gewährt der Schlaf, der, wie unser Shakespeare sagt, „den verworrenen Knäuel der Sorgen auseinander löst, das Bad der wunden Arbeit, die Geburt von jedes Tages Leben, der zweite Gang der großen Natur ist.“ Unter dem Schlaf ordnen sich die Lebensgeister wiederum in jenes heilsame Gleichgewicht, das die Fortdauer unsers Daseins so sehr verlangt; alle jene krampfartigen Ideen und Empfindungen, alle jene überspannten Tätigkeiten, die uns den Tag durch gepeinigt haben, werden jetzt in der allgemeinen Erschlaffung des Sensoriums aufgelöst, die Harmonie der Seelenwirkungen wird wiederum hergestellt, und ruhiger grüßt der neu erwachte Mensch den kommenden Morgen. 

   Auch in Hinsicht auf die Einrichtung des Ganzen können wir den Wert und die Wichtigkeit dieses Nachlasses nicht genug bewundern. Eben diese Einrichtung brachte es notwendig mit sich, dass Manche, die nicht minder glücklich sein sollten, der allgemeinen Ordnung aufgeopfert wurden und das Los der Unterdrückung davon trugen. Ebenso mussten wiederum viele, die wir vielleicht mit Unrecht zu beneiden pflegen, ihre Geistes- und Leibeskraft in rastloser Anstrengung foltern, damit die Ruhe des Ganzen erhalten werde. So ferner die Kranken, so das unvernünftige Vieh. Der Schlaf versiegelt gleichsam das Auge des Kummers, nimmt dem Fürsten und Staatsmann die schwere Bürde der Regierung ab, gießt Lebenskraft in die Adern des Kranken und Ruhe in seine zerrissene Seele; auch der Taglöhner hört die Stimme des Drängers nicht mehr, und das misshandelte Vieh entflieht den Tyranneien der Menschen. Alle Sorgen und Lasten der Geschöpfe begräbt der Schlaf, setzt alles ins Gleichgewicht, rüstet jeden mit neu geboren Kräften aus, die Freuden und Leiden des folgenden Tages zu ertragen. 

§ 27

Trennung des Zusammenhangs

   Endlich dann, auf den Zeitpunkt, wo der Geist den Zweck seines Daseins in diesem Kreis erfüllt hat, hat zugleich eine inwendige unbegreifliche Mechanik auch seinen Körper unfähig gemacht, weiterhin Werkzeug zu sein. Alle Anordnungen zur Aufrechthaltung des körperlichen Flors scheinen nur bis aus diese Epoche zu reichen; die Weisheit, kommt es mir vor, hat bei Gründung unserer physischen Natur eine solche Sparsamkeit beobachtet, dass, ungeachtet der steten Kompensationen, doch die Konsumtion immer das Übergewicht behalte, dass die Freiheit den Mechanismus missbrauche und der Tod aus dem Leben, wie aus seinem Keim, sich entwickle. Die Materie zerfällt in ihre letzten Elemente wieder, die nun in andere Formen und Verhältnissen durch die Reiche der Natur wandern, andern Absichten zu dienen. Die Seele fährt fort, in andern Kreisen ihre Denkkraft zu üben und das Universum von andern Seiten zu beschauen. Man kann freilich sagen, dass sie diese Sphäre im geringsten noch nicht erschöpft hat, dass sie solche vollkommener hätte verlassen können; aber weiß man denn, dass diese Sphäre für sie verloren ist? Wir legen jetzt manches Buch weg, das wir nicht verstehen, aber vielleicht verstehen wir es in einigen Jahren besser. 


1) Dieser Versuch, bisher in die sämtlichen Werke Schillers nicht aufgenommen, nun aber von seinen Söhnen hierfür bestimmt, erschien schon im Jahr 1780 im Druck, und zwar als: „Eine Abhandlung, welche in höchster Gegenwart seiner herzoglichen Durchlaucht, während den öffentlichen akademischen Prüfungen verteidigen wird Johann Christoph Friedrich Schiller, Kandidat der Medizin in der herzoglichen Militärakademie.“ ­
2) Aber auch etwas mehr als tierisches Leben des Tiers. Das Tier lebt das tierische Leben, um angenehm zu empfinden. Es empfindet angenehm, um das tierische Leben zu erhalten. Also es lebt jetzt, um morgen wieder zu leben. Es ist jetzt glücklich, um morgen glücklich zu sein. Aber ein einfaches, ein unsicheres Glück, das die Perioden des Organismus nachmacht, das dem Zufall, dem blinden Ungefähr preisgegeben ist, weil es nur allein in der Empfindung beruht. Der Mensch lebt auch das tierische Leben und empfindet seine Vergnügungen und leidet seine Schmerzen. Aber warum? Er empfindet und leidet, dass er sein tierisches Leben erhalte. Er erhält sein tierisches Leben, um ein geistiges länger leben zu können. Hier ist also Mittel verschieden vom Zweck, dort schienen Zweck und Mittel zu koinzidieren. Dies ist eine von den Grenzscheiden zwischen Mensch und Tier. ­
3) Anmerkungen zu Fergusons Moralphilosophie. S. 319. ­
4) Ebendaselbst. S. 393. ­ 
5) Siehe Schlözers Vorstellung seiner Universalhistorie §. 6. ­
6) Life of Moor. Tragedy by Krake. Act. V. Sc. 1. ­
7) Muzells medizinische und chirurgische Wahrnehmungen. ­