Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Über den moralischen Nutzen ästhetischer Sitten

   Der Verfasser des Aufsatzes über die Gefahr ästhetischer Sitten im elften Stück der Horen des Jahres 17951) hat eine Moralität mit Recht in Zweifel gezogen, welche bloß allein auf Schönheitsgefühle gegründet wird und den Geschmack allein zu ihrem Gewährsmann hat. Aber auf das moralische Leben hat ein reges und reines Gefühl für Schönheit offenbar den glücklichsten Einfluss und von diesem werde ich hier handeln.

   Wenn ich dem Geschmack das Verdienst zuschreibe, zur Beförderung der Sittlichkeit beizutragen, so kann meine Meinung gar nicht sein, dass der Anteil, den der gute Geschmack an einer Handlung nimmt, diese Handlung zu einer sittlichen machen könne. Das Sittliche darf nie einen anderen Grund haben, als sich selbst. Der Geschmack kann die Moralität des Betragens begünstigen, wie ich in dem gegenwärtigen Versuche zu erweisen hoffe, aber er selbst kann durch seinen Einfluss nie etwas Moralisches erzeugen. 

   Es ist hier mit der innern und moralischen Freiheit ganz derselbe Fall, wie mit der äußern physischen; frei in dem letztern Sinn handle ich nur alsdann, wenn ich, unabhängig von jedem fremden Einfluss, bloß meinem Willen folge. Aber die Möglichkeit, meinem eignen Willen uneingeschränkt zu folgen, kann ich doch zuletzt einem von mir verschiedenen Grund zu danken haben, sobald angenommen wird, dass der letztere meinen Willen hätte einschränken können. Ebenso kann ich die Möglichkeit, gut zu handeln, zuletzt doch einem von meiner Vernunft verschiedenen Grund zu danken haben, sobald dieser letztere als eine Kraft gedacht wird, die meine Gemütsfreiheit hätte einschränken können. Wie man also gar wohl sagen kann, dass ein Mensch von einem andern Freiheit erhalte, obgleich die Freiheit selbst darin besteht, dass man überhoben ist, sich nach andern zu richten: Ebenso gut kann man sagen, dass der Geschmack zur Tugend verhelfe, obgleich die Tugend selbst es ausdrücklich mit sich bringt, dass man sich dabei keiner fremden Hilfe bediene. 

   Eine Handlung hört deswegen gar nicht auf, frei zu heißen, weil glücklicher Weise Derjenige sich ruhig verhält, der sie hätte einschränken können, sobald wir nur wissen, dass der Handelnde dabei bloß seinem eigenen Willen folgte ohne Rücksicht auf einen fremden. Ebenso verliert eine innere Handlung deswegen das Prädikat einer sittlichen noch nicht, weil glücklicher Weise die Versuchungen fehlen, die sie hätten rückgängig machen können, sobald wir nur annehmen, dass der Handelnde dabei bloß dem Ausspruch seiner Vernunft mit Ausschließung fremder Triebfedern folgte. Die Freiheit einer äußern Handlung beruht bloß auf ihrem unmittelbaren Ursprung aus dem Willen der Person, die Sittlichkeit einer innern Handlung bloß auf der unmittelbaren Bestimmung des Willens durch das Gesetz der Vernunft. 

   Es kann uns schwerer oder leichter werden, als freie Menschen zu handeln, je nachdem wir auf Kräfte stoßen, die unsrer Freiheit entgegenwirken und bezwungen werden müssen. Insofern gibt es Grade der Freiheit. Unsere Freiheit ist größer, sichtbarer, wenigstens wenn wir sie bei noch so heftigem Widerstand feindseliger Kräfte behaupten; aber sie hört darum nicht auf, wenn unser Wille keinen Widerstand findet oder wenn eine fremde Gewalt sich ins Mittel schlägt und diesen Widerstand ohne unser Zutun vernichtet. 

   Ebenso mit der Moralität. Es kann uns mehr oder weniger Kampf kosten, unmittelbar der Vernunft zu gehorchen, je nachdem sich Antriebe in uns regen, die ihren Vorschriften widerstreiten und die wir abweisen müssen. Insofern gibt es Grade der Moralität. Unsere Moralität ist größer, hervorstechender wenigstens, wenn wir, bei noch so großen Antrieben zum Gegenteil, unmittelbar der Vernunft gehorchen; aber sie hört deswegen nicht auf, wenn sich keine Anreizung zum Gegenteil findet oder wenn etwas andres, als unsre Willenskraft, diese Anreizung entkräftet. Genug, wir handeln sittlich gut, sobald wir nur darum so handeln, weil es sittlich ist und ohne uns erst zu fragen, ob es auch angenehm ist; gesetzt auch, es wäre eine Wahrscheinlichkeit vorhanden, dass wir anders handeln würden, wenn es uns Schmerz machte oder ein Vergnügen entzöge. 

   Zur Ehre der menschlichen Natur lässt sich annehmen, dass kein Mensch so tief sinken kann, um das Böse bloß deswegen, weil es böse ist, vorzuziehen, sondern, dass jeder ohne Unterschied das Gute vorziehen würde, weil es das Gute ist, wenn es nicht zufälliger Weise das Angenehme ausschlösse oder das Unangenehme nach sich zöge. Alle Unmoralität in der Wirklichkeit scheint also in der Kollision des Guten mit dem Angenehmen oder, was auf eins hinausläuft, der Begierde mit der Vernunft zu entspringen und einerseits die Stärke der sinnlichen Antriebe, andererseits die Schwäche der moralischen Willenskraft zur Quelle zu haben. 

   Moralität kann also auf zweierlei Weise befördert werden, wie sie auf zweierlei Weise gehindert wird: Entweder man muss die Partei der Vernunft und die Kraft des guten Willens verstärken, dass keine Versuchung ihn überwältigen könne oder man muss die Macht der Versuchung brechen, damit auch die schwächere Vernunft und der schwächere gute Wille ihnen noch überlegen seien. 

   Zwar könnte es scheinen, als ob durch die letztere Operation die Moralität selbst nichts gewönne, weil mit dem Willen, dessen Beschaffenheit doch allein eine Handlung moralisch macht, keine Veränderung dabei vorgeht. Das ist aber auch in dem angenommenen Fall gar nicht nötig, wo man keinen schlimmen Willen, der verändert werden musste, nur einen guten, der schwach ist, voraussetzt. Und dieser schwache, gute Wille kommt auf diesem Weg doch zur Wirkung, was vielleicht nicht geschehen wäre, wenn stärkere Antriebe ihm entgegengearbeitet hätten. Wo aber ein guter Wille der Grund einer Handlung wird, da ist wirklich Moralität vorhanden. Ich trage also kein Bedenken, den Satz aufzustellen, dass dasjenige die Moralität wahrhaft befördert, was den Widerstand der Neigung gegen das Gute vernichtet. 

   Der natürliche innere Feind der Moralität ist der sinnliche Trieb, der, sobald ihm ein Gegenstand vorgehalten wird, nach Befriedigung strebt und, sobald die Vernunft etwas ihm Anstößiges gebietet, ihren Vorschriften sich entgegensetzt. Dieser sinnliche Trieb ist ohne Aufhören geschäftig, den Willen in sein Interesse zu ziehen, der doch unter sittlichen Gesetzen steht und die Verbindlichkeit auf sich hat, sich mit den Ansprüchen der Vernunft nie im Widerspruch zu befinden. 

   Der sinnliche Trieb aber erkennt kein sittliches Gesetz und will sein Objekt durch den Willen realisiert haben, was auch die Vernunft dazu sprechen mag. Diese Tendenz unsrer Begehrungskraft, dem Willen unmittelbar und ohne alle Rücksicht auf höhere Gesetze zu gebieten, steht mit unsrer sittlichen Bestimmung im Streit und ist der stärkste Gegner, den der Mensch in seinem moralischen Handeln zu bekämpfen hat. Rohen Gemütern, denen es zugleich an moralischer und an ästhetischer Bildung fehlt, gibt die Begierde unmittelbar das Gesetz und sie handeln bloß, wie ihren Sinnen gelüstet. Moralischen Gemütern, denen aber die ästhetische Bildung fehlt, gibt die Vernunft unmittelbar das Gesetz und es ist bloß der Hinblick auf die Pflicht, wodurch sie über Versuchung siegen. In ästhetisch verfeinerten Seelen ist noch eine Instanz mehr, welche nicht selten die Tugend ersetzt, wo sie mangelt und da erleichtert, wo sie ist. Diese Instanz ist der Geschmack. 

   Der Geschmack fordert Mäßigung und Anstand, er verabscheut alles, was eckig, was hart, was gewaltsam ist und neigt sich zu allem, was sich leicht und harmonisch zusammenfügt. Dass wir auch im Sturm der Empfindung die Stimme der Vernunft anhören und den rohen Ausbrüchen der Natur eine Grenze setzen, dies fordert schon bekanntlich der gute Ton, der nichts anders ist als ein ästhetisches Gesetz, von jedem zivilisierten Menschen. Dieser Zwang, den sich der zivilisierte Mensch bei Äußerung seiner Gefühle auflegt, verschafft ihm über diese Gefühle selbst einen Grad von Herrschaft, erwirbt ihm wenigstens eine Fertigkeit, den bloß leidenden Zustand seiner Seele durch einen Akt von Selbsttätigkeit zu unterbrechen und den raschen Übergang der Gefühle in Handlungen durch Reflexion aufzuhalten. Alles aber, was die blinde Gewalt der Affekte bricht, bringt zwar noch keine Tugend hervor (denn diese muss immer ihr eigenes Werk sein), aber es macht dem Willen Raum, sich zur Tugend zu wenden. Dieser Sieg des Geschmacks über den rohen Affekt ist aber ganz und gar keine sittliche Handlung und die Freiheit, welche der Wille hier durch den Geschmack gewinnt, noch ganz und gar keine moralische Freiheit. Der Geschmack befreit das Gemüt bloß insofern von dem Joch des Instinkts, als er es in seinen Fesseln führet, und, indem er den ersten und offenbaren Feind der sittlichen Freiheit entwaffnet, bleibt er selbst nicht selten als der zweite noch übrig, der unter der Hülle des Freundes nur desto gefährlicher sein kann. Der Geschmack nämlich regiert das Gemüt auch bloß durch den Reiz des Vergnügens – eines edleren Vergnügens freilich, weil die Vernunft seine Quelle ist – aber, wo das Vergnügen den Willen bestimmt, da ist noch keine Moralität vorhanden. 

   Etwas Großes ist aber doch bei dieser Einmischung des Geschmacks in die Operationen des Willens gewonnen worden. Alle jene materiellen Neigungen und rohen Begierden, die sich der Ausübung des Guten oft so hartnäckig und stürmisch entgegensetzen, sind durch den Geschmack aus dem Gemüt verwiesen und an ihrer Statt edlere und sanftere Neigungen darin angepflanzt worden, die sich auf Ordnung, Harmonie und Vollkommenheit beziehen und, wenn sie gleich selbst keine Tugenden sind, doch ein Objekt mit der Tugend teilen. Wenn also jetzt die Begierde spricht, so muss sie eine strenge Musterung vor dem Schönheitssinn aushalten; und, wenn jetzt die Vernunft spricht und Handlungen der Ordnung, Harmonie und Vollkommenheit gebietet, so findet sie nicht nur keinen Widerstand, sondern vielmehr die lebhafteste Beistimmung von Seiten der Neigung. Wenn wir nämlich die verschiedenen Formen durchlaufen, unter welchen sich die Sittlichkeit äußern kann, so werden wir sie alle auf diese zwei zurückführen können. Entweder macht die Sinnlichkeit die Motion im Gemüt, dass etwas geschehe oder nicht geschehe und der Wille verfügt darüber nach dem Vernunftgesetz; oder die Vernunft macht die Motion und der Wille gehorcht ihr, ohne Anfrage bei den Sinnen. 

   Die griechische Prinzessin Anna Komnena erzählt uns von einem gefangenen Rebellen, den ihr Vater Alexius, da er noch General seines Vorgängers war, den Auftrag gehabt habe, nach Konstantinopel zu eskortieren. Unterwegs, als beide allein zusammen ritten, bekommt Alexius Lust, unter dem Schatten eines Baums Halt zu machen und sich da vor der Sonnenhitze zu erholen. Bald übermannte ihn der Schlaf. Nur der andere, dem die Furcht des ihn erwartenden Todes keine Ruhe ließ, blieb munter. Indem jener nun im tiefen Schlaf liegt, erblickt der letztere des Alexius Schwert, das an einem Baumzweig aufgehängt ist und gerät in Versuchung, sich durch Ermordung seines Hüters in Freiheit zu setzen. Anna Komnena gibt zu verstehen, dass sie nicht wisse, was geschehen sein würde, wenn Alexius nicht glücklicher Weise sich noch ermuntert hätte. Hier war nun ein moralischer Rechtshandel der ersten Gattung, wo der sinnliche Trieb die erste Stimme führte und die Vernunft erst darüber als Richterin erkannte. Hätte jener nun die Versuchung aus bloßer Achtung für die Gerechtigkeit besiegt, so wäre kein Zweifel, dass er moralisch gehandelt hätte.

   Als der verewigte Herzog Leopold von Braunschweig an den Ufern der reißenden Oder mit sich zu Rate ging, ob er sich mit Gefahr seines Lebens dem stürmischen Strom überlassen sollte, damit einige Unglückliche gerettet würden, die ohne ihn hilflos waren – und als er, ich setze diesen Fall, einzig aus Bewusstsein dieser Pflicht, in den Nachen sprang, den kein andrer besteigen wollte, so ist wohl niemand, der ihm absprechen wird, moralisch gehandelt zu haben. Der Herzog befand sich hier in dem entgegengesetzten Fall von dem vorigen. Die Vorstellung der Pflicht ging hier vorher und dann erst regte sich der Erhaltungstrieb, die Vorschrift der Vernunft zu bekämpfen. In beiden Fällen aber verhielt sich der Wille auf dieselbe Art: Er folgte unmittelbar der Vernunft, daher sind beide moralisch. 

   Ob aber beide Fälle es auch noch dann bleiben, wenn wir dem Geschmack darauf Einfluss geben? 

   Gesetzt also, der erste, welcher versucht wurde, eine schlimme Handlung zu begehen und sie aus Achtung für die Gerechtigkeit unterließ, habe einen so gebildeten Geschmack, dass alles Schändliche und Gewalttätige ihm einen Abscheu erweckt, den nichts überwinden kann, so wird in dem Augenblick, als der Erhaltungstrieb auf etwas Schändliches dringt, schon der bloße ästhetische* Sinn es verwerfen – es wird also gar nicht einmal vor das moralische Forum, vor das Gewissen, kommen, sondern schon in einer frühern Instanz fallen. Nun regiert aber der ästhetische* Sinn den Willen bloß durch Gefühle, nicht durch Gesetze. Jener Mensch versagt sich also das angenehme Gefühl des geretteten Lebens, weil er das widrige, eine Niederträchtigkeit begangen zu haben, nicht ertragen kann. Das ganze Geschäft wird also schon im Forum der Empfindung verhandelt und das Betragen dieses Menschen, so legal es ist, ist moralisch indifferent – eine bloße, schöne Wirkung der Natur. 

   Gesetzt nun, der andere, dem seine Vernunft vorschrieb, etwas zu tun, wogegen sich der Naturtrieb empörte, habe gleichfalls einen so reizbaren Schönheitssinn, den alles, was groß und vollkommen ist, entzückt, so wird in demselben Augenblick, als die Vernunft ihren Ausspruch tut, auch die Sinnlichkeit zu ihr übertreten und er wird das mit Neigung tun, was er ohne diese zarte Empfindlichkeit für das Schöne gegen die Neigung hätte tun müssen. Werden wir ihn aber deswegen für minder vollkommen halten? Gewiss nicht: Denn er handelt ursprünglich aus reiner Achtung für die Vorschrift der Vernunft, und dass er diese Vorschrift mit Freuden befolgt, das kann der sittlichen Reinheit seiner Tat keinen Abbruch tun. Er ist also moralisch ebenso vollkommen, physisch hingegen ist er bei weitem vollkommener: Denn er ist ein weit zweckmäßigeres Subjekt für die Tugend. 

   Der Geschmack gibt also dem Gemüt eine für die Tugend zweckmäßige Stimmung, weil er die Neigungen entfernt, die sie hindern und diejenigen erweckt, die ihr günstig sind. Der Geschmack kann der wahren Tugend keinen Eintrag tun, wenn er gleich in allen den Fällen, wo der Naturtrieb die erste Anregung macht, dasjenige schon vor seinem Richterstuhl abtut, worüber sonst das Gewissen hätte erkennen müssen und also Ursache ist, dass sich unter den Handlungen derer, die durch ihn regiert werden, weit mehr indifferente, als wahrhaft moralische befinden. Denn die Vortrefflichkeit der Menschen beruht ganz und gar nicht auf der größeren Summe einzelner rigoristisch-moralischer Handlungen; sondern auf der größeren Kongruenz der ganzen Naturanlage mit dem moralischen Gesetz und es gereicht seinem Volk oder Zeitalter eben nicht so sehr zur Empfehlung, wenn man in demselben so oft von Moralität und einzelnen moralischen Taten hört; vielmehr darf man hoffen, dass am Ende der Kultur, wenn ein solches sich überhaupt nur gedenken lässt, wenig mehr davon die Rede sein werde. Der Geschmack kann hingegen der wahren Tugend in allen den Fällen positiv nützen, wo die Vernunft die erste Anregung macht und in Gefahr ist, von der stärkern Gewalt der Naturtriebe überstimmt zu werden. In diesen Fällen nämlich stimmt er unsre Sinnlichkeit zum Vorteil der Pflicht und macht also auch ein geringes Maß moralischer Willenskraft der Ausübung der Tugend gewachsen. 

   Wenn nun der Geschmack, als solcher, der wahren Moralität in keinem Fall schadet, in mehreren aber offenbar nützt, so muss der Umstand ein großes Gewicht erhalten, dass er der Legalität unsers Betragens im höchsten Grad beförderlich ist. Gesetzt nun, dass die schöne Kultur ganz und gar nichts dazu beitragen konnte, uns besser gesinnt zu machen, so macht sie uns wenigstens geschickt, auch ohne eine wahrhaft sittliche Gesinnung also zu handeln, wie eine sittliche Gesinnung es würde mit sich gebracht haben. Nun kommt es zwar vor einem moralischen Forum ganz und gar nicht auf unsere Handlungen an, als insofern sie ein Ausdruck unsrer Gesinnungen sind; aber vor dem physischen Forum und im Plan der Natur kommt es, gerade umgekehrt, ganz und gar nicht auf unsre Gesinnungen an, als insofern sie Handlungen veranlassen, durch die der Naturzweck befördert wird. Nun sind aber beide Weltordnungen, die physische, worin Kräfte, und die moralische, worin Gesetze regieren, so genau aufeinander berechnet und so innig miteinander verwebt, dass Handlungen, die ihrer Form nach moralisch zweckmäßig sind, durch ihren Inhalt zugleich eine physische Zweckmäßigkeit in sich schließen; und, sowie das ganze Naturgebäude nur darum vorhanden zu sein scheint, um den höchsten aller Zwecke, der das Gute ist, möglich zu machen, so lässt sich das Gute wieder als ein Mittel gebrauchen, um das Naturgebäude aufrecht zu halten. Die Ordnung der Natur ist also von der Sittlichkeit unsrer Gesinnungen abhängig gemacht, und wir können gegen die moralische Welt nicht verstoßen, ohne zugleich in der physischen eine Verwirrung anzurichten. 

   Wenn nun von der menschlichen Natur, so lange sie menschliche Natur bleibt, nie und nimmer zu erwarten ist, dass sie ohne Unterbrechung und Rückfall gleichförmig und beharrlich als reine Vernunft handle und nie gegen die sittliche Ordnung anstoße; wenn wir bei aller Überzeugung sowohl von der Notwendigkeit als von der Möglichkeit reiner Tugend uns gestehen müssen, wie sehr zufällig ihre wirkliche Ausübung ist, und wie wenig wir auf die Unüberwindlichkeit unsrer besseren Grundsätze bauen dürfen; wenn wir uns bei diesem Bewusstsein unserer Unzuverlässigkeit erinnern, dass das Gebäude der Natur durch jeden unsrer moralischen Fehltritte leidet; wenn wir uns alles dieses ins Gedächtnis rufen, so würde es die frevelhafteste Verwegenheit sein, das Beste der Welt auf dieses Ungefähr unsrer Tugend ankommen zu lassen. Vielmehr erwächst hieraus eine Verbindlichkeit für uns, wenigstens der physischen Weltordnung durch den Inhalt unsrer Handlungen Genüge zu leisten, wenn wir es auch der moralischen durch die Form derselben nicht recht machen sollten, wenigstens, als vollkommene Instrumente, dem Naturzweck zu entrichten, was wir, als unvollkommene Personen, der Vernunft schuldig bleiben, um nicht vor beiden Tribunalen zugleich mit Schande zu bestehen. Wenn wir deswegen, weil sie ohne moralischen Wert ist, für die Legalität unsers Betragens keine Anstalten treffen wollten, so könnte sich die Weltordnung darüber auflösen und, ehe wir mit unsern Grundsätzen fertig würden, alle Bande der Gesellschaft zerrissen sein. Je zufälliger aber unsre Moralität ist, desto notwendiger ist es, Vorkehrungen für die Legalität zu treffen, und eine leichtsinnige oder stolze Versäumnis dieser letztern kann uns moralisch zugerechnet werden. Ebenso, wie der Wahnsinnige, der seinen nahenden Paroxismus ahnt, alle Messer entfernt und sich freiwillig den Banden darbietet, um für die Verbrechen seines zerstörten Gehirnes nicht im gesunden Zustand verantwortlich zu sein; ebenso sind auch wir verpflichtet, uns durch Religion und durch ästhetische Gesetze zu binden, damit unsre Leidenschaft in den Perioden ihrer Herrschaft nicht die physische Ordnung verletze. 

   Ich habe hier nicht ohne Absicht Religion und Geschmack in eine Klasse gesetzt, weil beide das Verdienst gemein haben, dem Effekt, wenn gleich nicht dem innern Wert nach, zu einem Surrogat der wahren Tugend zu dienen und die Legalität da zu sichern, wo die Moralität nicht zu hoffen ist. Obgleich derjenige im Range der Geister unstreitig eine höhere Stelle bekleiden würde, der weder die Reize der Schönheit noch die Aussichten auf eine Unsterblichkeit nötig hätte, um sich bei allen Vorfällen der Vernunft gemäß zu betragen, so nötigen doch die bekannten Schranken der Menschheit selbst den rigidesten Ethiker, von der Strenge seines Systems in der Anwendung etwas nachzulassen, ob er demselben gleich in der Theorie nichts vergeben darf, und das Wohl des Menschengeschlechts, das durch unsere zufällige Tugend gar übel besorgt sein würde, noch zur Sicherheit an den beiden starken Ankern der Religion und des Geschmacks zu befestigen. 


1) Anmerkung des Herausgebers: Der hier erwähnte Aufsatz ist ein Teil jener Abhandlung, welche der Verfasser unter dem Titel: Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen (s.S. 255), der Sammlung seiner kleinen prosaischen Schriften einrückte.