Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Punschlied

Im Norden zu singen

 

Auf der Berge freien Höhen,
  In der Mittagssonne Schein,
An des warmen Strahles Kräften
  Zeugt Natur den goldnen Wein.

Und noch Niemand hat’s erkundet,
  Wie die große Mutter schafft.
Unergründlich ist das Wirken,
  Unerforschlich ist die Kraft.

Funkelnd wie ein Sohn der Sonne,
  Wie des Lichtes Feuerquell,
Springt er perlend aus der Tonne,
  Purpurn und kristallenhell.

Und erfreuet alle Sinnen
  Und in jede bange Brust,
Gißt er ein balsamisch Hoffen
  Und des Lebens neue Lust.

Aber matt auf unsre Zonen
  Fällt der Sonne schräges Licht.
Nur die Blätter kann sie färben,
  Aber Früchte reift sie nicht.

Doch der Norden auch will leben,
  Und, was lebt, will sich erfreun.
Darum schaffen wir erfindend
  Ohne Weinstock uns den Wein.

Bleich nur ist’s, was wir bereiten
  Auf dem häuslichen Altar.
Was Natur lebendig bildet,
  Glänzend ist’s und ewig klar.

Aber freudig aus der Schale
  Schöpfen wir die trübe Flut.
Auch die K u n s t ist Himmelsgabe,
  Borgt sie gleich von ird’scher Glut.

Ihrem Winken frei gegeben,
  Ist der Kräfte großes Reich.
Neues bildend aus dem Alten,
  Stellt sie sich dem Schöpfer gleich.

Selbst das Band der Elemente
  Trennt ihr herrschendes Gebot,
Und sie ahmt mit Herdes-Flammen
  N a c h dem hohen Sonnengott.

Fernhin zu den sel’gen Inseln
  Richtet sie der Schiffe Lauf
Und des Südens goldne Früchte
  Schüttet sie im Norden auf.

Drum ein Sinnbild und ein Zeichen
  Sei uns dieser Feuersaft,
Was der Mensch sich kann erlangen
  Mit dem Willen und der Kraft.

 


 

Überarbeitet auf Basis folgender Quelle:

  1. Friedrich von Schillers sämmtliche Werke. Neunter Band. J.G. Cotta’sche Buchhandlung. 1814. Seite 4-38. Unveränderter Originaltext auf dieser Seite.