Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Der Flüchtling

 

Frisch atmet des Morgens lebendiger Hauch.
  Purpurisch zuckt durch düst’rer Tannen Ritzen
Das junge Licht und äugelt aus dem Strauch.
    In gold’nen Flammen blitzen
    Der Berge Wolkenspitzen.
Mit freudig melodisch gewirbeltem Lied
  Begrüßen erwachende Lerchen die Sonne,
  Die schon in lachender Wonne
Jugendlich schön in Auroras Umarmungen glüht.

    Sei, Licht, mir gesegnet!
    Dein Stralenguss regnet
Erwärmend hernieder auf Anger und Au.
    Wie silberfarb flittern
    Die Wiesen, wie zittern
Tausend Sonnen in perlendem Tau!

    In säuselnder Kühle
    Beginnen die Spiele
      Der jungen Natur.
    Die Zephyre kosen
    Und schmeicheln um Rosen
Und Düfte beströmen die lachende Flur.

Wie hoch aus den Städten die Rauchwolken dampfen.
Laut wiehern und schnauben und knirschen und strampfen
    Die Rosse, die Farren,
    Die Wagen erknarren
      Ins ächzende Tal.
    Die Waldungen leben
Und Adler und Falken und Habichte schweben,
Und wiegen die Flügel im blendenden Strahl.

    Den Frieden zu finden,
    Wohin soll ich wenden
      Am elenden Stab?
    Die lachende Erde
    Mit Jünglingsgebärde
      Für mich nur ein Grab!

Steig’ empor, o Morgenrot, und röte
  Mit purpurnem Kusse Hain und Feld!
Säus’le nieder, Abendrot, und flöte
  Sanft in Schlummer die erstorb’ne Welt.
    Morgen – ach! Du rötest
      Eine Totenflur,
Ach! Und du, o Abendrot, umflötest
    Meinen langen Schlummer nur.

 


 

Überarbeitet auf Basis folgender Quelle:

  1. Gedichte von Friedrich Schiller. Siegfried Lebrecht Crusius, Leipzig, 1804. Seite 6-147. Unveränderter Originaltext auf dieser Seite.
  2. Friedrich von Schillers sämmtliche Werke. Erster und zweiter Band. J.G. Cotta’sche Buchhandlung. 1812. Seite 4-44. Unveränderter Originaltext auf dieser Seite.