Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Friedrich Schiller an Wolfgang von Goethe

Weimar 21. Dec. [Mittwoch] 1803.

Der rasche und wirklich anstrengende Wechsel von productiver Einsamkeit und einer ganz heterogenen SocietätsZerstreuung hat mich in dieser letzten Woche so ermüdet, daß ich durchaus nicht zum Schreiben kommen konnte, und es meiner Frau überließ, Ihnen eine Anschauung von unsern Zuständen zu geben. 

Frau v. Stael wird Ihnen völlig so erscheinen, wie Sie sie Sich a priori schon construirt haben werden; es ist alles aus Einem Stück und kein fremder, falscher und pathologischer Zug in ihr. Dieß macht daß man sich trotz des immensen Abstands der Naturen und Denkweisen vollkommen wohl bei ihr befindet, daß man alles von ihr hören und ihr alles sagen mag. Die französische Geistesbildung stellt sie rein und in einem höchst interessanten Lichte dar. In allem was wir Philosophie nennen, folglich in allen letzten und höchsten Instanzen ist man mit mir im Streit und bleibt es, trotz alles Redens. Aber ihr Naturell und Gefühl ist beßer als ihre Metaphysik, und ihr schöner Verstand erhebt sich zu einem genialischen Vermögen. Sie will alles erklären, einsehen, ausmessen, sie statuiert nichts dunkles, unzugängliches, und wohin sie nicht mit ihrer Fackel leuchten kann, da ist nichts für sie vorhanden. Darum hat sie eine horrible Scheu vor der Idealphilosophie, welche nach ihrer Meinung zur Mystik u. zum Aberglauben führt, und das ist die Stickluft wo sie umkommt. Für das was wir Poesie nennen, ist kein Sinn in ihr; sie kann sich von solchen Werken nur das leidenschaftliche, rednerische und allgemeine zueignen, aber sie wird nichts falsches schätzen, nur das rechte nicht immer erkennen. Sie ersehen aus diesen paar Worten, daß die Klarheit, Entschiedenheit und geistreiche Lebhaftigkeit ihrer Natur nicht anders als wohlthätig wirken können; das einzige lästige ist die ganz ungewöhnliche Fertigkeit ihrer Zunge, man muß sich ganz in ein Gehörorgan verwandeln um ihr folgen zu können. Da sogar ich, bei meiner wenigen Fertigkeit im Französischreden, ganz leidlich mit ihr fortkomme, so werden Sie bei Ihrer größeren Uebung eine sehr leichte Communication mit ihr haben. 

Mein Vorschlag wäre, Sie kämen den Sonnabend herüber, machten erst die Bekanntschaft und giengen dann den Sonntag wieder zurück um Ihr Jenaisches Geschäft zu vollenden. Bleibt Mad. d Stael länger als bis Neujahr, so finden Sie sie hier, und reist sie früher ab, so kann sie Sie ja in Jena vorher noch besuchen. Alles kommt jezt darauf an, daß Sie eilen, eine Anschauung von ihr zu bekommen, und sich einer gewissen Spannung zu entledigen. Können Sie früher kommen als Sonnabends, desto besser. 

Leben Sie recht wohl. Meine Arbeit hat in dieser Woche freilich nicht viel zugenommen, aber doch auch nicht ganz gestockt. Es ist recht Schade daß uns diese interessante Erscheinung zu einer so ungeschickten Zeit kommt, wo dringende Geschäfte, die böse Jahrszeit und die traurigen Ereignisse über die man sich nicht ganz erheben kann, zusammen auf uns drücken. 

Sch.


Bemerkungen

1 Zu S. 104. Z. 18. Vgl. Charlottens Briefe vom 14., 18., 21. Dez. 1803 an Goethe, Goethe-Jahrb. IV. S. 245 ff. Goethe, Brfe. an Charlotte vom 19., 20., 23. Dez. Urlichs, Charl. v. Sch. II. S. 240-241., und den Brief der Staël an Goethe vom 15. Dez. 1803, Goethe-Jahrb. VIII. S. 5. Am 24. Dez. scheinen Schiller, Charlotte u. die Staël zu Goethe nach Jena gefahren zu sein.
Zu S. 105. Z. 32. Herders Tod. Der Tod von Humboldts Sohn. Vermehrens Tod, den Goethe am 2. Dez. gemeldet hatte. Vgl. zu Nr. 1929.