Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Friedrich Schiller an Wolfgang von Goethe

Weimar 20. Jan. [Mittwoch] 1802.

Ich werde nunmehr die Iphigenia mit der gehörigen Hinsicht auf ihre neue Bestimmung lesen, und jedes Wort vom Theater herunter, und mit dem Publicum zusammen, hören. Das, was Sie das Humane darinn nennen, wird diese Probe besonders gut aushalten und davon rathe ich nichts wegzunehmen. Nächsten Sonnabend hoffe ich über den Erfolg etwas berichten zu können. 

Schütz hat mir nun auch eine Recension meiner J. v. O. zugeschickt, die aus einer ganz andern Feder kommt als die der Maria und von einem fähigeren Menschen herrührt; man findet darinn ganz frisch die Schellingische Kunstphilosophie auf das Werk angewendet. Aber es ist mir dabei sehr fühlbar geworden, daß von der Transcendentalen Philosophie zu dem wirklichen Factum noch eine Brücke fehlt, indem die Principien der Einen gegen das Wirkliche eines gegebenen Falles sich gar sonderbar ausnehmen und ihn entweder vernichten oder dadurch vernichtet werden. In der ganzen Recension ist von dem eigentlichen Werk nichts ausgesprochen, es war auch auf dem eingeschlagenen Weg nicht möglich, da von allgemeinen hohlen Formeln zu einem bedingten Fall kein Uebergang ist. Und dieß nennt man nun ein Werk kritisieren, wo ein Leser der das Werk nicht gelesen, auch nicht die leiseste Anschauung davon bekommt. Man sieht aber daraus, daß die Philosophie und die Kunst sich noch gar nicht ergriffen und wechselseitig durchdrungen haben, und vermißt mehr als jemals ein Organon, wodurch beide vermittelt werden können. In den Propylaeen war dieses in Absicht auf die bildenden Künste eingeleitet; aber die Propylaeen giengen auch von der Anschauung aus, und unsere jungen Philosophen wollen von Ideen unmittelbar zur Wirklichkeit übergehen. So ist es denn nicht anders möglich, als daß das Allgemeingesagte hohl und leer und das Besondere platt und unbedeutend ausfällt. 

Die Turandot denke ich etwa auf den Dienstag vom Theater herab zu hören und werde dadurch erst in den Stand gesezt seyn, zu bestimmen, was noch zu thun ist, und was der Ort und der Zeitmoment an dieser alten Erscheinung verändert. Destouches hat bereits einen Marsch dazu gesezt und mir heute vorgespielt, der sich ganz gut ausnimmt. 

Ich wünsche, daß Sie Sich in dem alten productiven Zimmer recht gut befinden und etwas neues an dem Fensterpfosten zu notieren haben möchten. 

S.


Bemerkungen

1 Zu S. 332. Z. 7. Sch. bearbeitete Goethes Iphigenie zum Zweck ihrer Aufführung, die am 15. Mai 1802 in Weimar stattfand. Die Bearbeitung Schillers ist nicht gedruckt. Zu Z. 10. Goethe hatte in X. sein Drama Iphigenie ganz verteufelt human genannt. Zu Z. 14. Die Recension stand in der Allgem. Litt. Zeit. 1802 Nr. 14-16 und rührte, wie Düntzer anmerkt, von J. A. Apel her. Abgedruckt bei Braun, Schiller im Urteil seiner Zeitgenossen III. 193.
Zu S. 333. Z. 8. Aufgeführt wurde die Turandot zuerst am 30. Januar, hier handelt es sich um die erste Theaterprobe. Zu Z. 14. In Jena, in Knebels alter Stube. Vgl. X. Goethe hatte in diesem Zimmer an einen weißen Fensterpfosten seit dem 21. Nov. 1798 alles, was er in diesem Zimmer von einiger Bedeutung gearbeitet hatte, verzeichnet.