Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Friedrich Schiller an Wolfgang von Goethe

Jena den 31. May [Freitag] 99.

Ich begreife wohl, daß Ihnen das Gedicht unserer Dilettantin immer weniger Freude machen mag, je näher Sie es betrachten. Denn auch darinn zeigt sich der Dilettantism besonders, daß er, weil er aus einem falschen Princip ausgeht, nichts hervorbringen kann, das nicht im Ganzen falsch ist, also auch keine wesentliche Hilfe zuläßt. Mein Trost ist, daß wir bei diesem Werke den dilettantischen Ursprung ja ankündigen dürfen, und daß wir, indem wir eine Toleranz dafür beweisen, bloß eine Humanität zeigen, ohne unser Urtheil zu compromittieren. Das schlimmste dabey ist die Mühe und die Unzufriedenheit, die es Ihnen macht; indessen müssen Sie die Arbeit als eine sectionem cadaveris zum Behuf der Wißenschaft ansehen, da dieser practische Fall bei der gegenwärtigen theoretischen Arbeit nicht ganz ungelegen kommt. 

Mir haben diese Tage ganz entgegengesetzte Produkte eines Meisters in der Kunst nicht viel mehr Freude gewährt, obgleich ich, da ich nicht dafür zu repondieren habe, ganz ruhig dabei bleiben kann. Ich habe Corneillens Rodogune, Pompée und Polyecte gelesen und bin über die wirklich enorme Fehlerhaftigkeit dieser Werke, die ich seit 20 Jahren rühmen hörte, in Erstaunen gerathen. Handlung, dramatische Organisation, Charaktere, Sitten, Sprache, alles selbst die Verse bieten die höchsten Blößen an, und die Barbarey einer sich erst bildenden Kunst reicht lange nicht hin, sie zu entschuldigen. Denn der falsche Geschmack, den man so oft auch in den geistreichsten Werken findet, wenn sie in einer rohen Zeit entstanden, dieser ist es nicht allein, nicht einmal vorzugsweise, was daran widerwärtig ist. Es ist die Armuth der Erfindung, die Magerkeit und Trockenheit in Behandlung der Charaktere, die Kälte in den Leidenschaften, die Lahmheit und Steifigkeit im Gang der Handlung, und der Mangel an Interesse fast durchaus. Dei Weibercharaktere sind klägliche Fratzen und ich habe noch nichts als das eigentlich heroische glücklich behandelt gefunden, doch ist auch dieses, an sich nicht sehr reichhaltige Ingrediens einförmig behandelt. 

Racine ist ohne allen Vergleich dem Vortreflichen viel näher, obgleich er alle Unarten der französischen Manier an sich trägt und im Ganzen etwas schwach ist. Nun bin ich in der That auf Voltaires Tragödie sehr begierig, denn aus den Critiken, die der leztere über Corneille gemacht, zu schließen, ist er über die Fehler desselben sehr klar gewesen. 

Es ist freilich leichter tadeln als hervorbringen. Dabey fällt mir mein eigenes Pensum ein, das noch immer sehr ungestaltet da liegt. Wüßten es nur die allzeit fertigen Urtheiler und die leicht fertigen Dilettanten, was es kostet, ein ordentliches Werk zu erzeugen.

Haben Sie doch die Güte mir mit der Botenfrau die Piccol. und d Wallenstein zu schicken. Kotzebue hat mich darum ersucht, und ich versprach es ihm, weil mich diese Gefälligkeit weniger kostet als ein Besuch bei ihm oder ein Abendessen. 

Meiern viele Grüße. Seinen Brief habe ich an Böttcher abgeschickt. 

Meine Frau grüßt Sie beßtens. 

Leben Sie wohl und heiter bei diesem erquickenden Regenwetter. 

Sch.


Bemerkungen

1 Zu S. 34. Z. 22. Goethe hatte in X. mehrfache Mängel an dem Gedicht der Imhoff: Die Schwestern von Lesbos hervorgehoben. Schiller hatte anfangs einen günstigen Eindruck von dem Gedicht, er war eben noch nicht so ins einzelne gegangen, und durch die Erörterungen mit Goethe über den Dilettantismus, zu denen vielleicht gerade dieses Gedicht den besonderen Anlaß geboten hatte, waren ihm die Mängel auch wohl klarer geworden.
Zu S. 36. Z. 1. Das Pensum ist Maria Stuart. Zu Z. 9. Meyers Brief war am 29. Mai bei Schiller eingetroffen.