Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Friedrich Schiller an Wolfgang von Goethe

Jena 20. 8br. [Freitag] 97. 

Vor einigen Tagen überschickte uns Böttiger zwey schöne Exemplare Ihres Herrmanns, womit wir sehr erfreuet wurden. Er ist also nunmehr in der Welt und wir wollen hören, wie sich die Stimme eines Homerischen Rhapsoden in dieser neuen politischrhetorischen Welt ausnehmen wird. Ich habe das Gedicht nun wieder mit dem alten ungeschwächten Eindruck und mit neuer Bewegung gelesen; es ist schlechterdings vollkommen in seiner Gattung, es ist pathetisch mächtig und doch reizend in höchstem Grade, kurz es ist schön was man sagen kann. 

Auch den Meister habe ich ganz kürzlich wieder gelesen, und es ist mir noch nie so auffallend gewesen, was die äusere Form doch bedeutet. Die Form des Meisters, wie überhaupt jede Romanform, ist schlechterdings nicht poetisch, sie ist liegt ganz nur im Gebiete des Verstandes, steht unter allen seinen Foderungen und participiert auch von allen seinen Grenzen. Weil es aber ein ächt poetischer Geist ist, der sich dieser Form bediente, und in dieser Form die poetischsten Zustände ausdrückte, so entsteht ein sonderbares Schwanken zwischen einer prosaischen und poetischen Stimmung, für das ich keinen rechten Nahmen weiß. Ich möchte sagen, es fehlt dem Meister (dem Roman nehmlich) an einer gewißen poetischen Kühnheit, weil er, als Roman, es dem Verstande immer recht machen will – und es fehlt ihm wieder an einer eigentlichen Nüchternheit (wofür er doch gewissermaaßen die Foderung rege macht), weil er aus einem poetischen Geiste geflossen ist. Buchstabieren Sie das zusammen wie Sie können, ich theile Ihnen bloß meine Empfindung mit. 

Da Sie auf einem solchen Punkte stehen, wo Sie das Höchste von sich fodern müssen und objectives mit subjectivem absolut in Eins zerfließen muß, so ist es durchaus nöthig dafür zu sorgen, daß dasjenige was Ihr Geist in Ein Werk legen kann, immer auch die reiste Form ergreife, und nichts davon in einem unreinen Medium verloren gehe. Wer fühlt nicht alles das im Meister, was den Hermann so bezaubernd macht! Jenem fehlt nichts, gar nichts von Ihrem Geiste, er ergreift das Herz mit allen Kräften der Dichtkunst und gewährt einen immer sich erneuenden Genuß, und doch führt mich der Herrmann (und zwar bloß durch seine rein poetische Form) in eine göttliche Dichterwelt, da mich der Meister aus der wirklichen Welt nicht ganz herausläßt. 

Da ich doch einmal im Kritisieren bin, so will ich noch eine Bemerkung machen, die mir bei dem neuen Lesen sich aufdrang. Es ist offenbar zuviel von der Tragödie im Meister: ich meine das Ahndungsvolle, das Unbegreifliche, das subjectiv wunderbare, welches zwar mit der poetischen Tiefe und Dunkelheit, aber nicht mit der Klarheit sich verträgt, die im Roman herrschen muß und in diesem auch so vorzüglich herrscht. Es incommodiert, auf diese Grundlosigkeiten zu gerathen, da man überal festen Boden unter sich zu fühlen glaubt, und weil sich sonst alles so schön vor dem Verstand entwirret, auf solche Räthsel zu gerathen. Kurz mir däucht, Sie hätten sich hier eines Mittels bedient, zu dem der Geist des Werks Sie nicht befugte. 

Uebrigens kann ich Ihnen nicht genug sagen, wie mich der Meister auch bei diesem neuen Lesen bereichert, belebt, entzückt hat – es fließt mir darinn eine Quelle, wo ich für jede Kraft der Seele und für diejenige besonders, welche die vereinigte Wirkung von allen ist, Nahrung schöpfen kann.


Bemerkungen

1 Zum Inhalt vgl. Goethes Zustimmung in Z.