Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Friedrich Schiller an Wolfgang von Goethe

Jena 7. Sept. [Donnerstag] 97. 

Endlich fange ich an, mich wieder zu fühlen und meine Stimmung wieder zu finden. Nach Abgang meines lezten Briefs an Sie hatte sich mein Uebel noch verschlimmert, ich habe mich lange nicht so schlimm befunden, bis endlich ein Vomitiv die Sachen wieder in Ordnung brachte. Fast alle meine Beschäftigungen stockten indessen und die wenigen leidlich Augenblicke, die ich hatte, nahm der Almanach in Anspruch. Solch eine Beschäftigung hat durch ihren ununterbrochenen und unerbittlich gleichen Rhythmus etwas wohlthätiges, da sie die Willkühr aufhebt und sich streng, wie die Tagszeit, meldet. Man nimmt sich zusammen, weil es seyn muß, und bei bestimmten Foderungen, die man an sich macht, geschieht die Sache auch nicht schlechter. Wir sind mit dem Druck des Almanachs jetzt bald im reinen, und wenn die Beywerke, Decke, Titelkupfer und Musik, keinen Aufenthalt machen, kann das Werkchen vor Michaelis noch versendet werden. 

Mit dem Ibycus habe ich nach Ihrem Rath wesentliche Veränderungen vorgenommen, die Exposition ist nicht mehr so dürftig, der Held der Ballade interessiert mehr, die Kraniche füllen die Einbildungskraft auch mehr, und bemächtigen sich der Aufmerksamkeit genug, um bei ihrer letzten Erscheinung, durch das Vorhergehende, nicht in Vergeßenheit gebracht zu seyn. 

Was aber Ihre Erinnerung in Rücksicht auf die Entwicklung betrift, so war es mir unmöglich, hierinn ganz Ihren Wunsch zu erfüllen – Lasse ich den Ausruf des Mörders nur von den nächsten Zuschauern gehört werden, und unter diesen eine Bewegung entstehen, die sich dem ganzen, nebst ihrer Veranlassung, erst mittheilt, so bürde ich mir ein Detail auf, das mich hier, bei so ungeduldig forteilender Erwartung, gar zu sehr embarrassiert, die Masse schwächt, die Aufmerksamkeit vertheilt u. s. w. Meine Ausführung soll aber nicht ins Wunderbare gehen, auch schon bei dem ersten Concept fiel mir das nicht ein, nur hatte ich es zu unbestimmt gelassen. Der bloße natürliche Zufall muß die Catastrophe erklären. Dieser Zufall führt den Kranichzug über dem Theater hin, der Mörder ist unter den Zuschauern, das Stück hat ihn zwar nicht eigentlich gerührt und zerknirscht, das ist meine Meinung nicht, aber es hat ihn an seine That und also auch an das, was dabey vorgekommen, erinnert, sein Gemüth ist davon frappiert, die Erscheinung der Kraniche muß also in diesem Augenblick ihn überraschen, er ist ein roher dummer Kerl, über den der momentane Eindruck alle Gewalt hat. Der laute Ausruf ist unter diesen Umständen natürlich. 

Da ich ihn oben sitzend annehme, wo das gemeine Volk seinen Platz hat, so kann er erstlich die Kraniche früher sehen, eh sie über der Mitte des Theaters schweben, dadurch gewinn ich, daß der Ausruf der wirklichen Erscheinung der Kraniche vorhergehen kann, worauf hier viel ankommt, und daß also die wirkliche Erscheinung derselben bedeutender wird. Ich gewinne zweitens, daß er, wenn er oben ruft, beßer gehört werden kann. Denn nun ist es gar nicht unwahrscheinlich, daß ihn das ganze Haus schreien hört, wenn gleich nicht alle seine Worte verstehen. 

Dem Eindruck selbst, den seine Exclamation macht, habe ich noch eine Strophe gewidmet, aber die wirkliche Entdeckung der That, als Folge jenes Schreyes, wollte ich mit Fleiß nicht umständlicher darstellen, denn sobald nur der Weg zur Auffindung des Mörders geöfnet ist (und das leistet der Ausruf, nebst dem darauf folgenden verlegenen Schrecken), so ist die Ballade aus, das andere ist nichts mehr für d Poeten. 

Ich habe die Ballade, in ihrer nun veränderten Gestalt, an Bötticher gesendet, um von ihm zu erfahren, ob sich nichts darinn mit altgriechischen Gebräuchen im Widerspruch befindet. Sobald ich sie zurückerhalte, lege ich die letzte Hand daran und eile dann damit in Druck. In meinem nächsten Briefe hoffe ich sie Ihnen nebst dem ganzen Rest des Almanachs abgedruckt zu senden. Auch Schlegel hat noch eine Romanze geschickt, worin Arions Geschichte mit dem Delphin behandelt ist. Der Gedanke wäre recht gut, aber die Ausführung däucht mir kalt, trocken und ohne Interesse zu seyn. Er wollte auch die Sacontala als Ballade bearbeiten; ein sonderbares Unternehmen für ihn, wovor ihn sein guter Engel bewahren wolle. 

Ihren vorletzten Brief vom 16. August erhielt ich viel später, da Bötticher, der ihn zu besorgen hatte, abwesend war. Das sentimentale Phänomen in Ihnen befremdet mich gar nicht, und mir dünkt, Sie selbst haben es sich hinlänglich erklärt. Es ist ein Bedürfniß poetischer Naturen, wenn man nicht überhaupt Menschlicher Gemüther sagen will, so wenig leeres als möglich um sich zu leiden, so viel Welt, als nur immer angeht, sich durch die Empfindung anzueignen, die Tiefe aller Erscheinungen zu suchen, und überall ein Ganzes der Menschheit zu fodern. Ist der Gegenstand als Individuum leer und mithin in poetischer Hinsicht Gehaltlos, so wird sich das Ideen Vermögen daran versuchen und ihn von seiner symbolischen Seite faßen, und so eine Sprache für die Menschheit daraus machen. Immer aber ist das Sentimentale (in gutem Sinn) ein Effekt des poetischen Strebens, welches, sey es aus Gründen die in dem Gegenstand, oder solchen, die in dem Gemüth liegen, nicht ganz erfüllt wird. Eine solche poetische Foderung, ohne eine reine poetische Stimmung und ohne einen poetischen Gegenstand, scheint Ihr Fall gewesen zu seyn, und was Sie mithin an sich erfuhren, ist nichts als die allgemeine Geschichte der sentimentalischen Empfindungsweise und bestätiget alles das, was wir darüber miteinander festgesetzt haben. 

Nur eins muß ich dabei noch erinnern. Sie drücken sich so aus, als wenn es hier sehr auf den Gegenstand ankäme; was ich nicht zugeben kann. Freilich der Gegenstand muß etwas bedeuten, so wie der poetische etwas seyn muß; aber zulezt kommt es auf das Gemüth an, ob ihm ein Gegenstand etwas bedeuten soll, und so däucht mir das Leere und Gehaltreiche mehr im Subject als im Object zu liegen. Das Gemüth ist es, welches hier die Grenze steckt, und das Gemeine oder Geistreiche kann ich auch hier wie überall nur in der Behandlung, nicht in der Wahl des Stoffes finden. Was Ihnen die zwey angeführten Plätze gewesen sind, würde Ihnen unter andern Umständen, bei einer mehr aufgeschloßenen poetischen Stimmung, jede Straße, Brücke, jedes Schiff, ein Pflug oder irgend ein anderes mechanisches Werkzeug vielleicht geleistet haben. 

Entfernen Sie aber ja diese sentimentalen Eindrücke nicht, und geben Sie denselben einen Ausdruck so oft Sie können. Nichts, außer dem poetischen, reinigt das Gemüth so sehr von dem Leeren und Gemeinen, als diese Ansicht der Gegenstände, eine Welt wird dadurch in das einzelne gelegt, und die flachen Erscheinungen gewinnen dadurch eine unendliche Tiefe. Ist es auch nicht poetisch, so ist es, wie Sie selbst es ausdrücken, menschlich; und das menschliche ist immer der Anfang des poetischen, das nur der Gipfel davon ist. 

Heute, als den 8ten, erhalte ich einen Brief von Cotta der mir sagt, daß Sie seit dem 30sten in Stuttgardt wären. Ich kann Sie mir nicht in Stuttgardt denken, ohne gleichfalls in eine sentimentale Stimmung zu gerathen. Was hätte ich vor 16 Jahren darum gegeben, Ihnen auf diesem Boden zu begegnen, und wie wunderbar wird mirs, wenn ich die Zustände und Stimmungen welche dieses Local mir zurückruft, mit unserm gegenwärtigen Verhältniß zusammen denke. 

Ich bin sehr erwartend, wie lang Sie in dortigen Gegenden zu verweilen Neigung und Veranlassung gefunden. Hoffentlich fand Sie mein Brief vom 30 noch dort; der gegenwärtig aber trift Sie wahrscheinlich erst in Zürich und bei unserm Freund, den ich herzlich grüße. 

Schreiben Sie mir doch in Ihrem nächsten Briefe, wie es mit den für Sie bestimmten Exemplarien des Almanachs soll gehalten werden, wohin und an wen ich sie zu schicken habe. 

Herzlich freue ich mich, daß Sie auch an die Horen gedacht haben und mich auf den October etwas dafür hoffen lassen. Bei den Anstalten, die Sie machten sich der ErfahrungsMasse um Sie herum zu bemächtigen, muß Ihnen ein unerschöpflicher Stoff zufließen. 

Es war mir sehr angenehm, daß Hölderlin sich Ihnen noch praesentiert hat; er schrieb mir nichts davon, daß ers thun wollte und muß sich also auf einmal ein Herz gefaßt haben. Hier ist auch wieder ein poetisches Genie, von Schlegels Art und Weise. Sie werden ihn im Almanach finden. Er hat Schlegels Pygmalion nachgeahmt und in demselben Geschmack einen symbolischen Phaethon geliefert. Das Product ist närrisch genug, aber die Versification und einzelne gute Gedanken geben ihm doch einiges Verdienst. 

Leben Sie recht wohl und fahren Sie fort wie bißher mich Ihrem Geiste folgen zu lassen. Herzliche Grüße von meiner Frau. Ihr Kleiner höre ich ist ganz wieder hergestellt. 

Sch.


Bemerkungen

1 Der Brief ging erst am 8. Sept. ab.
Empfangsvermerk: Stäfa den 23. Sept.
Zu S. 251. Z. 20. Wie anders lautet Schs. Urteil Schlegel selbst gegenüber Nr. 1242.
Zu S. 253. Z. 5. Vor 18 Jahren am 14. Dez. 1779 war Goethe in Stuttgart gewesen. Hier denkt Schiller an die Zeit des Erscheinens seiner Räuber, wie es scheint, oder irrt er sich in der Zeit und meint das Jahr 1779? Zu Z. 18. Von Goethe erschien nichts mehr in den Horen. Zu Z. 25. Gemeint ist Gries. Vgl. Nr. 1241 u. 1242.