Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Friedrich Schiller an Wolfgang von Goethe

Jena 7. Jul. [Freitag] 97. 

Es wäre, däucht mir, jetzt gerade der rechte Moment, daß die griechischen Kunstwerke von Seiten des Charakteristischen beleuchtet und durchgegangen würden: denn allgemein herrscht noch immer der Winkelmannische und Lessingische Begriff und unsre allerneuesten Aesthetiker, sowohl über Poesie als Plastik, lassen sichs recht sauer werden, das Schöne der Griechen von allem Characteristischen zu befreien und dieses zum Merkzeichen des Modernen zu machen. Mir däucht, daß die neuern Analytiker durch ihre Bemühungen, den Begriff des Schönen abzusondern und in einer gewissen Reinheit aufzustellen, ihn beinah ausgehöhlt und in einen leeren Schall verwandelt haben, dass man in der Entgegensetzung des Schönen gegen das Richtige und Treffende viel zu weit gegangen ist, und eine Absonderung, die bloß der Philosoph macht und die bloß von einer Seite statthaft ist, viel zu grob genommen hat. 

Viele, finde ich, fehlen wieder auf eine andere Art, daß sie den Begriff der Schönheit viel zu sehr auf den Innhalt der Kunstwerke als auf die Behandlung beziehen, und so müssen sie freilich verlegen seyn, wenn sie den vaticanischen Apoll und ähnliche, durch ihren Innhalt schon schöne Gestalten, mit dem Laokoon, mit einem Faun oder andern peinlichen oder ignobeln Repraesentationen unter Einer Idee von Schönheit begreifen sollen. 

Es ist, wie Sie wissen, mit der Poesie derselbe Fall. Wie hat man sich von jeher gequält und quält sich noch, die derbe oft niedrige und häßliche Natur im Homer und in den Tragikern bei den Begriffen durchzubringen, die man sich von dem Griechischen Schönen gebildet hat. Möchte es doch einmal einer wagen, den Begriff und selbst das Wort Schönheit, an welches einmal alle jene falsche Begriffe unzertrennlich geknüpft sind, aus dem Umlauf zu bringen und, wie billig, die Wahrheit in ihrem vollständigsten Sinn an seine Stelle zu setzen.

Den Hirtischen Aufsatz hätte ich recht gern in den Horen. Sie und Meier würden dann, wenn der Weg einmal offen ist, den Faden um so bequemer aufnehmen können und das Publicum auch schon mehr vorbereitet finden. Auch ich fände meine Rechnung dabey, wenn diese Materie über das Characteristische und Leidenschaftliche in den griechischen Kunstwerken recht zur Sprache käme, denn ich sehe voraus daß mich die Untersuchungen über das Griechische Trauerspiel, die ich mir vorbehalten habe, auf den nehmlichen Punkt führen werden. Ihren Aufsatz erwarte ich mit Begierde. 

Ich habe jetzt überlegt, daß der musicalische Theil des Almanachs vor allen Dingen fertig seyn muß, weil der Componist sonst nicht fertig wird. Deßwegen bin ich jetzt an mein Glockengießerlied gegangen und studire seit gestern in Krünitz Encyklopaedie, wo ich sehr viel profitire. Dieses Gedicht liegt mir sehr am Herzen, es wird mir aber mehrere Wochen kosten, weil ich so vielerley verschiedene Stimmungen dazu brauche und eine große Masse zu verarbeiten ist. Ich hätte auch nicht übel Lust, wenn Sie mir dazu rathen, noch 4 oder 5 kleine Nadoweßische Lieder nachfolgen zu lassen, um diese Natur, in die ich einmal hineingegangen, durch mehrere Zustände durchzuführen. 

Aus meiner projectierten Reise nach Weimar hat diese Woche nichts werden wollen, doch denke ich sie in der nächsten auszuführen. Der Prolog ist jetzt noch auf Reisen; sobald er zurückkommt, schicke ich oder bringe ich ihn selbst . 

Leben Sie recht wohl. Meine Frau grüßt Sie schönstens. 

Sch.


Bemerkungen

1 Der Inhalt des Briefes mit dem des Briefes Nr. 1250 kennzeichnet Schillers Stellung zur Kunst in der Annäherung und doch auch wieder im Gegensatz an und zu der modernen Kunst. An die Stelle des Winkelmann-Lessingschen Begriffs des griechischen Schönen setzt er die Wahrheit, diese aber unterscheidet er scharf von der Wirklichkeit, von der gemeinen Deutlichkeit der Dinge ohne den goldenen Duft der Morgenröte.
Zu S. 217. Z. 8. Hirts Aufsatz über das Kunstschöne erschien im 7. Horenstück. Zu Z. 16. Den Aufsatz Goethes über Laokoon. Zu Z. 31. Prolog d. h. Wallensteins Lager, das er an Körner geschickt hatte.