Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Friedrich Schiller an Gottfried Körner

3 Jun. [Sonnabend] 97. 

Ich weiß nicht, wer von uns beiden dem andern am längsten nicht geschrieben hat. Bei mir haben in den letzten 6 Wochen die Zerstreuungen wieder so schnell auf einander gewechselt, daß ich nichts habe thun können. Wir hatten immer Fremde, auch ist Göthe seit mehreren Wochen hier, den ich, vor seiner italienischen Reise jetzt wohl zum letztenmal sehe. Er ist beinah entschlossen, sich in 2 Monaten auf den Weg zu machen. Da Humboldts nun auch fort sind, und ich mit Schlegels den Umgang aufgehoben1, so bin ich diesen Sommer ziemlich allein, außer daß ich mit meinem Schwager2 und Schwägerinn die jetzt in Weimar etablirt sind, in einer angenehmen Verbindung lebe. Ich hoffe diese Muße für den Almanach gut zu nutzen. 

Ich habe vor einiger Zeit Aristoteles Poetik, zugleich mit Göthen, gelesen und sie hat mich nicht nur nicht niedergeschlagen und eingeengt, sondern wahrhaft gestärkt und erleichtert. Nach der peinlichen Art, wie die Franzosen den Aristoteles nehmen und an seinen Foderungen vorbeyzukommen suchen, erwartet man einen kalten, illiberalen und steifen Gesetzgeber in ihm, und gerade das Gegentheil findet man. Er dringt mit Festigkeit und Bestimmtheit auf das Wesen, und über die äußern Dinge ist er so lax als man seyn kann. Was er vom Dichter fodert, muß dieser von sich selbst fodern, wenn er irgend weiß, was er will, es fließt aus der Natur der Sache. Die Poetik handelt beinah ausschließend von der Tragödie, die er mehr als irgend dein anderes poetisches genre begünstigt. Man merkt ihm an, daß er aus einer sehr reichen Erfahrung und Anschauung herausspricht und eine ungeheure Menge tragische Vorstellung vor sich hatte. Auch ist in seinem Buch absolut nichts speculatives, keine Spur von irgend einer Theorie, es ist alles empirisch; aber die große Anzahl der Falle und die glückliche Wahl der Muster, die er vor Augen hat, giebt seinen empirischen Aussprüchen einen allgemeinen Gehalt und die völlige Qualität von Gesetzen. 

Du mußt ihn selbst lesen. Ich las ihn nach einer deutschen Übersetzung von Curtius, die in Hannover schon vor langer Zeit erschienen ist. 

Mich hat er mit meinem Wallenstein keineswegs unzufriedener gemacht. Ich fühle, daß ich ihm, den unvertilgbaren Unterschied der neuen von der alten Tragödie abgerechnet, in allen wesentlichen Foderungen Genüge geleistet habe und leisten werde. 

Lebe recht wohl. Wir umarmen euch herzlich. 

Dein 

S. 

Die Einlage sei so gut an Humboldt zu besorgen. Sie werden Dir, von meiner Seite einen Ldor bezahlen, der Dir, nach Abzug der Guitarre für Deine Recension des Wilh. Meister noch gehört.


1 Durch den Brief vom 31. Mai 97, gedruckt in den Briefen Schillers und Goethes an Schlegel, S. 16 ff.
2 Wilhelm v. Wolzogen und Karoline v. Wolzogen, geb. Lengefeld.


Bemerkungen

1 Zu S. 198. Z. 2. Goethe war vom 20. Mai bis 16. Juni in Jena.
Zu S. 199. Z. 6. Die Einlage kenne ich nicht.