Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Friedrich Schiller an Wolfgang von Goethe

Jena 4. April [Dienstag] 97. 

Aus der bißherigen Abwechßlung und Geselligkeit bin ich auf einmal in die größte Einsamkeit versetzt und auf mich selbst zurückgeführt. Außer Ihnen u Humboldt hat mich auch alle weibliche Gesellschaft verlassen, und ich wende diese Stille dazu an, über meine tragisch-dramatische Pflichten nachzudenken. Nebenher entwerfe ich ein detailliertes Scenarium des ganzen Wallensteins, um mir die Uebersicht der Momente und des Zusammenhangs auch durch die Augen mechanisch zu erleichtern. 

Ich finde, je mehr ich über mein eigenes Geschäft und über die BehandlungsArt der Tragödie bei den Griechen nachdenke, daß der ganze Cardo rei in der Kunst liegt, eine poetische Fabel zu erfinden. Der Neuere schlägt sich mühselig und ängstlich mit Zufälligkeiten und Nebendingen herum, und über dem Bestreben, der Wirklichkeit recht nahe zu kommen, beladet er sich mit dem Leeren und Unbedeutenden, und darüber läuft er Gefahr, die tiefliegende Wahrheit zu verlieren, worinn eigentlich alles Poetische liegt. Er möchte gern einen wirklichen Fall vollkommen nachahmen, und bedenkt nicht, daß eine poetische Darstellung mit der Wirklichkeit eben darum, weil sie absolut wahr ist, niemals coincidieren kann. 

Ich habe diese Tage den Philoctet und die Trachinierinnen gelesen, und die letztern mit besonders großem Wohlgefallen. Wie treflich ist der ganze Zustand, das Empfinden, die Existenz der Dejanira gefaßt. Wie ganz ist sie die Hausfrau des Herkules, wie individuell, wie nur für diesen einzigen Fall passend ist dieß Gemählde, und doch wie tief menschlich, wie ewig wahr und allgemein. Auch im Philoctet ist alles aus der Lage geschöpft, was sich nur daraus schöpfen ließ, und bei dieser Eigenthümlichkeit des Falles ruht doch alles wieder auf dem ewigen Grund der menschlichen Natur. 

Es ist mir aufgefallen, daß die Charactere des Griechischen Trauerspiels, mehr oder weniger, idealische Masken und keine eigentliche Individuen sind, wie ich sie in Schakespear und auch in Ihren Stücken finde. So ist zb Ullysses im Ajax und im Philoctet offenbar nur das Ideal der listigen, über ihre Mittel nie verlegenen, engherzigen Klugheit; so ist Creon im Oedip und in der Antigone bloß die kalte Königswürde. Man kommt mit solchen Characteren in der Tragödie offenbar viel besser aus, sie exponieren sich geschwinder, und ihre Züge sind permanenter und fester. Die Wahrheit leidet dadurch nichts, weil sie bloßen logischen Wesen eben so entgegengesetzt sind als bloßen Individuen.

Ich sende Ihnen hier, pour la bonne bouche, ein allerliebstes Fragment aus dem Aristophanes, welches mir Humboldt dagelassen hat. Es ist köstlich, ich wünschte den Rest auch zu haben.

Dieser Tage bin ich mit einem großen prächtigen PergamentBogen aus Stockholm überrascht worden. Ich glaubte, wie ich das Diplom mit dem großen wächßernen Siegel aufschlug, es müßte wenigstens eine Pension herausspringen, am Ende wars aber bloß ein Diplom der Academie der Wißenschaften. Indessen freut es immer, wenn man seine Wurzeln weiter ausdehnt und seine Existenz in andere eingreifen sieht.

Ich hoffe bald ein neues Stück Cellini von Ihnen zu erhalten. 

Leben Sie recht wohl, mein theurer, mir immer theurerer Freund. Mich umgeben noch immer die schönsten Geister, die Sie mir hier gelassen haben, und ich hoffe immer vertrauter damit zu werden. Leben Sie recht wohl. 

Sch.


Bemerkungen

1 Der Brief spiegelt die tiefe geistige Anregung wieder, die Goethes langer Besuch Schiller gegeben hatte, und Goethe hatte desgleichen den Reichtum Schillers an Ideen wiederum erfahren. Die Verschiedenheit der poetischen Arbeit am Wallenstein und an Hermann und Dorothea führte die Dichter zum Nachdenken über das Wesen der Kunst und das Charakteristische ihrer Gattungen und Schiller weiß nach seiner Art die ersten Anregungen im mündlichen Verkehr brieflich fortzuspinnen, so daß dieser Brief eine Reihe von Briefen einleitet, in denen Sch. Goethesche Anregungen sich und dem Freunde zurechtzulegen und zur klaren Erkenntnis zu bringen suchte, oder in denen, um mit Goethe zu reden (an Sch. d. 26. April 97), Schiller Goethes Träume ihm erzählte und auslegte. Und den poetischen Ausdruck seiner Freude an diesem Ideenverkehr mit Schiller gab Goethe in seinem Gedichte: „An Schiller mit einer kleinen mineralogischen Sammlung“:

Von vielen Steinen sendet Dir,
Der Freund ein Musterstück;
Ideen giebst Du bald dafür
Ihm tausendfach zurück.

Es ist wohl Zufall, daß dieses Gedicht, das Goethe erst am 16. Juni mit der mineralogischen Gabe an Sch. sandte, vom 13. Juni datiert ist, dem dritten Jahrestage des ersten Briefes Schillers an Goethe, aber es ist ein solcher Zufall, dem man gern Bedeutung beilegt. Drei kurze Jahre hatten für Schiller genügt, sich zu rüsten, um sozusagen Goethe zu erobern oder von ihm als ebenbürtige Geistesmacht anerkannt zu werden. Vgl. auch Goethe an Sch. vom 19. Juli und Schillers Antwort vom 21. Juli. Jetzt hatten beide die Sicherheit gewonnen, daß „ein solches auf wechselseitige Perfectibilität gebautes Verhältnis immer frisch und lebendig bleiben“ müsse. Nun „standen sie für einen Mann und gingen mit Macht und Glück und Lust durchs Leben hin.“
Zu S. 167. Z. 19. Schs. Frau war auch für einige Tage nach Weimar gegangen, vermutlich mit ihrer Schwester Karoline, die jetzt dort ihr neues Hauswesen einrichtete. Vgl. G. an Sch. vom 5. April.
Zu S. 168. Z. 4. Jedes Wort dieses Absatzes möchte ich unterstreichen. Hier ist bündig die Rechtfertigung der Poesie unsrer Klassiker gegenüber der unserer „Modernen“ ausgesprochen. Zu Z. 29. Humboldts Aristophanesübersetzung ist meines Wissens ungedruckt.
Zu S. 169. Z. 2. Goethe schreibt über solche Diplome in Z. sehr treffend: „Dergleichen Erscheinungen sind, als barometrische Anzeigen der öffentlichen Meinung, nicht zu verachten.“