Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Friedrich Schiller an Wolfgang von Goethe

Jena den 9. Jul. [Sonnabend] 96.

Es ist mir sehr lieb zu hören, daß ich Ihnen meine Gedanken über jene zwey Punkte habe klar machen können und daß Sie Rücksicht darauf nehmen wollen. Das, was Sie Ihren realistischen Tic nennen, sollen Sie dabey gar nicht verläugnen. Auch das gehört zu Ihrer poetischen Individualität, und in den Grenzen von dieser müssen Sie ja bleiben; alle Schönheit in dem Werk muß Ihre Schönheit seyn. Es kommt also bloß darauf an, aus dieser subjektiven Eigenheit einen objektiven Gewinn für das Werk zu ziehen, welches gewiß gelingt, sobald Sie wollen. Dem Inhalte nach muß in dem Werk alles liegen, was zu seiner Erklärung nöthig ist, und der Form nach muß es nothwendig darinn liegen, der innere Zusammenhang muß es mit sich bringen – aber wie fest oder locker es zusammenhängen soll, darüber muß Ihre eigenste Natur entscheiden. Dem Leser würde es freilich bequemer seyn, wenn Sie selbst ihm die Momente worauf es ankommt blank und baar zuzählten, daß er sie nur in Empfang zu nehmen brauchte; sicherlich aber hält es ihn bei dem Buche fester, und führt ihn öfter zu demselben zurück, wenn er sich selber helfen muß. Haben sie also nur dafür gesorgt, daß er gewiß findet, wenn er mit gutem Willen und hellen Augen sucht, so ersparen Sie ihm ja das Suchen nicht. Das Resultat eines solchen Ganzen muß immer die eigene, freye, nur nicht willkührliche Production des Lesers seyn, es muß eine Art von Belohnung bleiben, die nur dem würdigen zu Theil wird, indem sie dem unwürdigen sich entziehet.

Ich will, um es nicht zu vergeßen, noch einige Erinnerungen hersetzen, worauf ich, in Rücksicht auf jene geheime Maschinerie, zu achten bitte. 1) Man wird wißen wollen, zu welchem Ende der AbbeL oder sein Helfershelfer den Geist des alten Hamlet spielt. 2) Daß der Schleyer mit dem Zettelchen „flieh, flieh etc.“ zweymal erwähnt wird, erregt Erwartungen, daß diese Erfindung zu keinem unbedeutenden Zwecke diene. Warum, möchte man fragen, treibt man Wilhelmen von der Einen Seite von dem Theater, da man ihn doch von der andern zur Aufführung seines Lieblingsstücks und zu seinem Debüt behülflich ist? Man erwartet auf diese 2 Fragen eine mehr specielle Antwort, als Jarno biß jetzt gegeben hat. 3) Möchte man wohl auch gerne wissen, ob der Abbe und seine Freunde, vor der Erscheinung Werners im Schlosse, schon gewußt, daß sie es bey dem Guts Kauf mit einem so genauen Freund und Verwandten zu thun haben? ihrem Benehmen nach scheint es fast so, und so wundert man sich wieder über das Geheimniß, das sie Wilhelmen daraus gemacht haben. 4) Wäre doch zu wünschen, daß man die Quelle erführe, aus welcher der Abbe die Nachrichten von Theresens Abkunft schöpfte, besonders da es doch etwas befremdet, daß dieser wichtige Umstand so genau dabey interessierten Personen und die sonst so gut bedient sind, biß auf den Moment, wo der Dichter ihn braucht, hat ein Geheimniß bleiben können.

Es ist wohl ein bloßer Zufall, daß die zweyte Hälfte des Lehrbriefs weggeblieben ist, aber ein geschickter Gebrauch des Zufalls, bringt in der Kunst, wie im Leben, oft das treflichste hervor. Mir däucht, diese zweyte Hälfte des Lehrbriefs könnte im achten Buch, an einer weitbedeutenderen Stelle und mit ganz andern Vortheilen nachgebracht werden. Die Ereignisse sind unterdessen vorwärts gerückt; Wilhelm selbst hat sich mehr entwickelt, er sowohl als der Leser sind auf jene praktischen Resultate über das Leben und den Lebensgebrauch weit beßer vorbereitet; auch der Saal der Vergangenheit und Nataliens nähere Bekanntschaft können eine günstigere Stimmung dazu herbeygeführt haben. Ich riethe deßwegen sehr, jene Hälfte des Lehrbriefs ja nicht wegzulassen, sondern wo möglich den philosophischen Inhalt des Werkes – deutlicher oder versteckter – darinn nieder zu legen. Ohnehin kann, bei einem Publicum wie nun einmal das deutsche ist, zu Rechtfertigung einer Absicht, und hier namentlich noch zu Rechtfertigung des Titels, der vor dem Buche steht und jene Absicht deutlich ausspricht, nie zuviel geschehen.

Zu meiner nicht geringen Zufriedenheit habe ich in dem 8ten Buche auch ein paar Zeilen gefunden, die gegen die Metaphysic Fronte machen, und auf das speculative Bedürfniß im Menschen Beziehung haben. Nur etwas schmal und klein ist das Almosen ausgefallen, das Sie der armen Göttinn reichen, und ich weiß nicht, ob man Sie mit dieser kargen Gabe quittieren kann. Sie werden wohl wissen, von welcher Stelle ich hier rede, denn ich glaube es ihr anzusehen, daß sie mit vielem Bedacht darein gekommen ist.

Ich gestehe es, es ist etwas stark, in unserm speculativischen Zeitalter einen Roman von diesem Innhalt und von diesem weiten Umfang zu schreiben, worinn „das einzige was Noth ist“ so leise abgeführt wird – einen so sentimentalischen Charakter, wie Wilhelm doch immer bleibt, seine Lehrjahre ohne Hülfe jener würdigen Führerinn vollenden zu lassen. Das schlimmste ist, daß er sie wirklich in allem Ernste vollendet, welches von der Wichtigkeit jener Führerinn eben nicht die beßte Meinung erweckt.

Aber im Ernste – woher mag es kommen, daß Sie einen Menschen haben erziehen und fertig machen können, ohne auf Bedürfnisse zu stoßen, denen die Philosophie nur begegnen kann? Ich bin überzeugt, daß dieses bloß der aesthetischen Richtung zuzuschreiben ist, die Sie in dem ganzen Romane genommen. Innerhalb der aesthetischen Geistesstimmung regt sich kein Bedürfniß nach jenen Trostgründen, die aus der Speculation geschöpft werden müssen; sie hat Selbstständigkeit, Unendlichkeit in sich; nur wenn sich das Sinnliche und das Moralische im Menschen feindlich entgegen streben, muß bey der reinen Vernunft Hilfe gesucht werden. Die gesunde und schöne Natur braucht, wie Sie selbst sagen, keine Moral, kein Naturrecht, keine politische Metaphysic; sie hätten eben so gut auch hinzusetzen können, sie braucht keine Gottheit, keine Unsterblichkeit um sich zu stützen und zu halten. Jene 3 Punkte, um die zuletzt alle Speculation sich dreht, geben einem sinnlich ausgebildeten Gemüth zwar Stoff zu einem poetischen Spiel, aber sie können nie zu ernstlichen Angelegenheiten und Bedürfnissen werden.

Das einzige könnte man vielleicht noch dagegen erinnern, daß unser Freund jene aesthetische Freiheit noch nicht so ganz besitzt, die ihn vollkommen sicher stellte, in gewiße Verlegenheiten nie zu gerathen, gewisser Hülfsmittel (der Speculation) nie zu bedürfen. Ihm fehlt es nicht an einem gewißen philosophischen Hange, der allen sentimentalen Naturen eigen ist, und käme er also einmal ins Speculative hinein, so möchte es bey diesem Mangel eines philosophischen Fundaments, bedenklich um ihn stehen; denn nur die Philosophie kann das Philosophiren unschädlich machen; ohne sie führt es unausbleiblich zum Mysticism. (Die Stiftsdame selbst ist ein Beweis dafür. Ein gewißer aesthetischer Mangel machte ihr die Speculation zum Bedürfniß, und sie verirrte zur Herrenhuterey, weil ihr die Philosophie nicht zu Hülfe kam; als Mann hätte sie vielleicht alle Irrgänge der Metaphysic durchwandert.)

Nun ergeht aber die Foderung an Sie (der Sie auch sonst überall ein so hohes Genüge gethan), Ihren Zögling mit vollkommener Selbstständigkeit, Sicherheit, Freiheit und gleichsam architectonischer Festigkeit so hinzustellen, wie er ewig stehen kann, ohne einer äusern Stütze zu bedürfen; man will ihn also durch eine aesthetische Reife auch selbst über das Bedürfniß einer philosophischen Bildung, die er sich nicht gegeben hat, vollkommen hinweggesetzt sehen. Es fragt sich jetzt: ist er Realist genug, um nie nöthig zu haben, sich an der reinen Vernunft zu halten? Ist er es aber nicht – sollte für die Bedürfnisse des Idealisten nicht etwas mehr gesorgt seyn?

Sie werden vielleicht denken, daß ich bloß einen künstlichen Umweg nehme, um Sie doch in die Philosophie hinein zu treiben; aber was ich noch etwa vermisse, kann sicherlich auch in Ihrer Form vollkommen gut abgethan werden. Mein Wunsch geht bloß dahin, daß Sie die Materien quaestionis nicht umgehen, sondern ganz auf Ihre Weise lösen möchten. Was bey Ihnen selbst alles Speculative Wissen ersetzt, und alle Bedürfnisse dazu Ihnen fremd macht, wird auch bei Meistern vollkommen genug seyn. Sie haben den Oheim schon sehr vieles sagen lassen, und auch Meister berührt den Punkt einigemal sehr glücklich; es wäre also nicht so gar viel mehr zu thun. Könnte ich nur in Ihre Denkweise dasjenige einkleiden, was ich im Reich der Schatten und in den aesthetischen Briefen, der meinigen gemäß, ausgesprochen habe, so wollten wir sehr bald einig seyn.

Was Sie über Wilhelms Äußerliches Wernern in den Mund gelegt, ist von ungemein guter Wirkung für das Ganze. Es ist mir eingefallen, ob Sie den Grafen, der am Ende des achten Buches erscheint, nicht auch dazu nutzen könnten, Wilhelmen zu völligen Ehren zu bringen. Wie, wenn der Graf, der Ceremonienmeister des Romans, ihn durch sein achtungsvolles Betragen und durch eine gewisse Art der Behandlung, die ich Ihnen nicht näher zu bezeichnen brauche, ihn auf einmal aus seinem Stande heraus in einen höheren stellte, und ihm dadurch auf gewisse Art den noch fehlenden Adel ertheilte? Gewiß, wenn selbst der Graf ihn distinguirte, so wäre das Werk gethan.

Ueber Wilhelms Benehmen im Saal der Vergangenheit, wenn er diesen zum erstenmal mit Natalien betritt, habe ich noch eine Erinnerung zu machen. Er ist mir hier noch zu sehr der alte Wilhelm, der im Hause des Großvaters am liebsten bey dem kranken Königssohn verweilte, und den der Fremde, im ersten Buch, auf einem so unrechten Wege findet. Auch noch jetzt bleibt er fast ausschließend bey dem bloßen Stoff der Kunstwerke stehen und poetisiert mir zu sehr damit. Wäre hier nicht der Ort gewesen, den Anfang einer glücklicheren Crise bey ihm zu zeigen, ihn zwar nicht als Kenner, denn das ist unmöglich, aber doch als einen mehr objektiven Betrachter darzustellen, so daß etwa ein Freund, wie unser Meier, Hofnung von ihm fassen könnte?

Sie haben Jarno schon im siebenten Buche so glücklich dazu gebraucht, durch seine harte und trockene Manier eine Wahrheit heraus zu sagen, die den Helden so wie den Leser auf einmal um einen großen Schritt weiter bringt: ich meyne die Stelle, wo er Wilhelmen das Talent zum Schauspieler rund weg abspricht. Nun ist mir beygefallen, ob er ihm nicht in Rücksicht auf Theresen und Natalien einen ähnlichen Dienst, mit gleich gutem Erfolg für das Ganze, leisten könnte. Jarno scheint mir der rechte Mann zu seyn, Wilhelmen zu sagen, daß Therese ihn nicht glücklich machen könne, und ihm einen Wink zu geben, welcher weibliche Charakter für ihn tauge. Solche einzelne dürr gesprochene Worte, im rechten Moment gesagt, entbinden auf einmal den Leser von einer schweren Last, und wirken wie ein Blitz, der die ganze Scene erleuchtet.

Montag [11. Juli]. früh.

Ein Besuch hinderte mich gestern diesen Brief abzusenden. Heute kann ich nichts mehr hinzusetzen, da es zu unruhig bey mir zugeht. Meine Frau ist ihrer Niederkunft nahe und Stark vermuthet sie schon heute. Für Ihr freundschaftliches Anerbieten, den Karl zu sich zu nehmen, danken wir Ihnen herzlich. Er ist uns nicht zur Last, da wir einige Personen mehr zur Bedienung angenommen und die Disposition mit den Zimmern gemacht haben, daß er nicht stört. Für Vieille Ville und Muratori danke ich Ihnen beßtens. Schlegel ist mit seiner Frau wieder hier angekommen; die kleine Paulus ist eilig nach Schwaben abgereist, ihre kranke Mutter zu besuchen. Leben Sie recht wohl. Auf den Mittwoch hoffe ich Ihnen mit erleichtertem Herzen weitere Nachricht zu geben.

Sch.