Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Friedrich Schiller an Wolfgang von Goethe

Jena 5. Jul. [Dienstag] 96.

Jetzt da ich das Ganze des Romans mehr im Auge habe, kann ich nicht genug sagen, wie glücklich der Charakter des Helden von Ihnen gewählt worden ist, wenn sich so etwas wählen ließe. Kein anderer hätte sich so gut zu einem Träger der Begebenheiten geschickt, und wenn ich auch ganz davon abstrahiere, daß nur an einem solchen Charakter das Problem aufgeworfen und aufgelößt werden konnte, so hätte schon zur bloßen Darstellung des Ganzen kein anderer so gut gepaßt. Nicht nur der Gegenstand verlangte ihn, auch der Leser brauchte ihn. Sein Hang zum reflectieren hält den Leser im raschesten Laufe der Handlung still, und nöthigt ihn immer vor- und rückwärts zu sehen und über alles was sich ereignet zu denken. Er sammelt so zu sagen den Geist, den Sinn, den innern Gehalt von allem ein, was um ihn herum vorgeht, verwandelt jedes dunkle Gefühl in einen Begriff und Gedanken, spricht jedes einzelne in einer allgemeineren Formel aus, legt uns von allem die Bedeutung näher, und indem er dadurch seinen eigenen Charakter erfüllt, erfüllt er zugleich aufs vollkommenste den Zweck des ganzen.

Der Stand und die äußre Lage, aus der Sie ihn wählten, macht ihn dazu besonders geschickt. Eine gewiße Welt ist ihm nun ganz neu, er wird lebhafter davon frappiert und während daß er beschäftigt ist, sich dieselbe zu assimilieren, führt er auch uns in das innere derselben und zeigt uns, was darinn reales für den Menschen enthalten ist. In ihm wohnt ein reines und moralisches Bild der Menschheit, an diesem prüft er jede äusere Erscheinung derselben, und indem von der einen Seite die Erfahrung seine schwankenden Ideen mehr bestimmen hilft, rectifiziert eben diese Idee, diese innere Empfindung gegenseitig wieder die Erfahrung. Auf diese Art hilft Ihnen dieser Character wunderbar, in allen vorkommenden Fällen und Verhältnissen, das rein menschliche aufzufinden und zusammen zu lesen. Sein Gemüth ist zwar ein treuer, aber doch kein bloß passiver Spiegel der Welt, und obgleich seine Phantasie auf sein Sehen Einfluß hat, so ist dieses doch nur idealistisch, nicht phantastisch, poetisch aber nicht schwämerisch; es liegt dabey keine Willkühr der spielenden Einbildungskraft, sondern eine schöne moralische Freyheit zum Grunde.

Ueberaus wahr und treffend schildert ihn seine Unzufriedenheit mit sich selbst, wenn er Theresen seine Lebensgeschichte aufsetzt. Sein Werth liegt in seinem Gemüth, nicht in seinen Wirkungen, in seinem Streben, nicht in seinem Handeln; daher muss ihm sein Leben, sobald er einem andern davon Rechenschaft geben will, so gehaltleer vorkommen. Dagegen kann eine Therese und ähnliche Charaktere ihren Werth immer in baarer Münze aufzählen, immer durch ein äußres Objekt documentieren. Daß Sie aber Theresen einen Sinn, eine Gerechtigkeit für jene höhere Natur geben ist wieder ein sehr schöner und zarter Charakterzug; in ihrer klaren Seele muss sich auch das, was sie nicht in sich hat, abspiegeln können, dadurch erheben Sie sie auf einmal über alle jene bornierte Naturen, die über ihr dürftiges Selbst auch in der Vorstellung nicht hinaus können. Daß endlich ein Gemüth wie Theresens an eine ihr selbst so fremde Vorstellungs- und EmpfindungsWeise glaubt, daß sie das Herz, welches derselben fähig ist, liebt und achtet, ist zugleich ein schöner Beweis für die objektive Realität derselben, der jeden Leser dieser Stelle erfreuen muß.

Es hat mich auch in dem 8ten Buche sehr gefreut, daß Wilhelm anfängt, sich jenen imposanten Autoritaeten, Jarno und d AbbeL, gegenüber mehr zu fühlen. Auch dieß ist ein Beweis, daß er seine Lehrjahre ziemlich zurückgelegt hat, und Jarno antwortet bey dieser Gelegenheit ganz aus meiner Seele: „Sie sind bitter, das ist recht schön und gut, wenn Sie nur erst einmal recht böse werden, so wird es noch beßer seyn.“ – Ich gestehe, daß es mir ohne diesen Beweis von Selbstgefühl bey unserm Helden peinlich seyn würde, ihn mir mit dieser Klasse so eng verbunden zu denken, wie nachher durch die Verbindung mit Natalien geschieht. Bey dem lebhaften Gefühl für die Vorzüge des Adels und bey dem ehrlichen Mißtrauen gegen sich selbst und seinen Stand, das er bey so vielen Gelegenheiten an den Tag legt, scheint er nicht ganz qualifiziert zu seyn, in diesen Verhältnissen eine vollkommene Freyheit behaupten zu können, und selbst noch jetzt, da Sie ihn muthiger und selbstständiger zeigen, kann man sich einer gewissen Sorge um ihn nicht erwehren. Wird er den Bürger je vergessen können, und muss er das nicht, wenn sich sein Schicksal vollkommen schön entwickeln soll? Ich fürchte, er wird ihn nie ganz vergessen; er hat mir zuviel darüber reflektiert; er wird, was er einmal so bestimmt außer sich sah, nie vollkommen in sich hinein bringen können. Lotharios Vornehmes Wesen wird ihn, so wie Nataliens doppelte Würde des Standes und des Herzens, immer in einer gewissen Inferiorität erhalten. Denke ich mir ihn zugleich als den Schwager des Grafen, der das Vornehme seines Standes auch durch gar nichts aesthetisches mildert, vielmehr durch Pedanterie noch recht heraussetzt, so kann mir zuweilen bange für ihn werden.

Es ist übrigens sehr schön, daß Sie, bey aller gebührenden Achtung für gewiße äußere positive Formen, sobald es auf etwas rein menschliches ankommt, Geburt und Stand in ihre völlige Nullität zurückweisen und zwar, wie billig, ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren. Aber was ich für eine offenbare Schönheit halte, werden Sie schwerlich allgemein gebilliget sehen. Manchem wird es wunderbar vorkommen, daß ein Roman, der so gar nichts „sanscülottisches“ hat, vielmehr an manchen Stellen der Aristokratie das Wort zu reden scheint, mit drey Heurathen endigt, die alle drey Mißheurathen sind. Da ich an der Entwicklung selbst nichts anders wünsche als es ist, und doch den wahren Geist des Werkes auch in Kleinigkeiten und Zufälligkeiten nicht gerne verkannt sehe, so gebe ich Ihnen zu bedenken, ob der falschen Beurtheilung nicht noch durch ein paar Worte „in Lotharios Munde“ zu begegnen wäre. Ich sage in Lotharios Munde, denn dieser ist der aristokratischte Charakter, er findet bey den Lesern aus seiner Klasse am meisten Glauben, bey ihm fällt die Mesalliance auch am stärksten auf; zugleich gäbe dieses eine Gelegenheit, die nicht so oft vorkommt, Lotharios vollendeten Charakter zu zeigen. Ich meyne auch nicht, daß dieses bey der Gelegenheit selbst geschehen sollte, auf welche der Leser es anzuwenden hat; desto besser vielmehr, wenn es unabhängig von jeder Anwendung und nicht als Regel für einen einzelnen Fall, aus seiner Natur herausgesprochen wird.

Was Lothario betrift, so könnte zwar gesagt werden, daß Theresens illegitime und bürgerliche Abkunft ein Familiengeheimniß sey; aber desto schlimmer, dürften alsdann manche sagen, so muß er die Welt hintergehen, um seinen Kindern die Vortheile seines Standes zuzuwenden. Sie werden selbst am beßten wißen, wieviel oder wie wenig Rücksicht auf diese Armseligkeiten zu nehmen seyn möchte.

Für heute nichts weiter. Sie haben nun allerley durcheinander von mir gehört und werden noch manches hören, wie ich voraussehe; möchte etwas darunter seyn, was Ihnen dienlich ist!

Leben Sie wohl und heiter.

Sch.

Sollten Sie den Vieilleville in den nächsten 8 Tagen entbehren können, so bittet meine Frau darum und auch ich wünschte eine NachtLecture darinn zu finden.

Haben Sie auch die Güte mir die Auslage zu nennen, die Sie für meine Tapeten gehabt haben, und zugleich 2 Laubthaler dazu zu setzen, die ich Sie an H. Facius für das Horenpetschaft auszulegen bat. Der Caviar, den Humboldt Ihnen schickte und worüber ich mich mit ihm berechne, beträgt 8 Rthlr., welches ich für eine genoßene Speise ziemlich viel finde.