Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Friedrich Schiller an Wolfgang von Goethe

Jena den 3. Jul. [Sonntag] 1796.

Ich habe nun Wilhelms Betragen bey dem Verlust seiner Therese im ganzen Zusammenhang reiflich erwogen, und nehme alle meine vorige Bedenklichkeiten zurück. So wie es ist, muß es seyn. Sie haben darinn die höchste Delikatesse bewiesen, ohne im geringsten gegen die Wahrheit der Empfindung zu verstoßen.

Es ist zu bewundern, wie schön und wahr die drei Charaktere der Stiftsdame, Nataliens und Theresens nuanciert sind. Die zwey ersten sind heilige, die zwey andern sind wahre und menschliche Naturen; aber eben darum weil Natalie heilig und menschlich ist, so erscheint sie wie ein Engel, da die Stiftsdame nur eine Heilige, Therese nur eine vollkommene Irrdische ist. Natalie und Therese sind beyde Realistinnen; aber bey Theresen zeigt sich auch die Beschränkung des Realism, bey Natalien nur der Gehalt desselben. Ich wünschte daß die Stiftsdame ihr das Praedicat einer schönen Seele nicht weggenommen hätte, denn nur Natalie ist eigentlich eine rein aesthetische Natur. Wie schön daß sie die Liebe, als einen Affekt, als etwas ausschließendes und besonders gar nicht kennt, weil die Liebe ihre Natur, ihr permanenter Charakter ist. Auch die Stiftsdame kennt eigentlich die Liebe nicht – aber aus einem unendlich verschiedenen Grunde.

Wenn ich Sie recht verstanden habe, so ist es gar nicht ohne Absicht geschehen, daß Sie Natalien unmittelbar von dem Gespräch über die Liebe und über ihre Unbekanntschaft mit dieser Leidenschaft den Uebergang zu dem Saal der Vergangenheit nehmen lassen. Gerade die Gemüthsstimmung, in welche man durch diesen Saal versetzt wird erhebt über alle Leidenschaft, die Ruhe der Schönheit bemächtiget sich der Seele, und diese giebt den beßten Aufschluß über Nataliens liebefreye und doch so liebevolle Natur.

Dieser Saal der Vergangenheit vermischt die aesthetische Welt, das Reich der Schatten im idealen Sinn, auf eine herrliche Weise mit dem lebendigen und wirklichen, so wie überhaupt aller Gebrauch, den Sie von den Kunstwerken gemacht, solche gar treflich mit dem Ganzen verbindet. Es ist ein so froher freyer Schritt aus der gebundenen engen Gegenwart heraus, und führt doch immer so schön zu ihr zurücke. Auch der Uebergang von dem mittlern Sarkophag zu Mignon und zu der Wirklichen Geschichte ist von der höchsten Wirkung. Die Innschrift: gedenke zu leben ist treflich, und wird es noch mehr, da sie an das verwünschte Memento mori erinnert, und so schön darüber triumphiert.

Der Oheim mit seinen sonderbaren Idiosyncrasien für gewisse Naturkörper ist gar interessant. Gerade solche Naturen haben eine so bestimmte Individualitaet und so ein starkes Maaß von Empfänglichkeit, als der Oheim besitzen muß, um das zu seyn, was er ist. Seine Bemerkung über die Musik und daß sie ganz rein zu dem Ohre sprechen solle ist auch voll Wahrheit. Es ist unverkennbar, daß Sie in diesen Charakter am meisten von Ihrer eigenen Natur gelegt haben.

Lothario hebt sich unter allen Hauptcharakteren am wenigsten heraus, aber aus ganz objektiven Gründen. Ein Charakter wie dieser kann in dem Medium, durch welches der Dichter wirkt, nie ganz erscheinen. Keine einzelne Handlung oder Rede stellt ihn dar; man muß ihn sehen, man muß ihn selbst hören, man muß mit ihm leben. Deßwegen ist es genug, daß die, welche mit ihm leben, in dem Vertrauen und in der Hochschätzung gegen ihn so ganz einig sind, daß alle Weiber ihn lieben, die immer nach dem TotalEindruck richten, u: daß wir auf die Quellen seiner Bildung aufmerksam gemacht werden. Es ist bey diesem Charakter der Imagination des Lesers weit mehr überlassen als bey den andern, und mit dem vollkommensten Rechte; denn er ist aesthetisch, er muß also von dem Leser selbst produziert werden, aber nicht willkührlich, sondern nach Gesetzen, die Sie auch bestimmt genug gegeben haben. Nur seine Annäherung an das Ideal macht, daß diese Bestimmtheit der Züge nie zur Schärfe werden kann.

Jarno bleibt sich biß ans Ende gleich, und seine Wahl in Rücksicht auf Lidien setzt seinem Charakter die Krone auf. Wie gut haben Sie doch Ihre Weiber unterzubringen gewußt! – Charaktere wie Wilhelm, wie Lothario können nur glücklich seyn durch Verbindung mit einem harmonierenden Wesen; ein Mensch wie Jarno kann es nur mit einem kontrastierenden werden; dieser muß immer etwas zu thun und zu denken und zu unterscheiden haben.

Die gute Gräfinn fährt bei der poetischen Wirthsrechnung nicht zum beßten; aber auch hier haben Sie völlig der Natur gemäß gehandelt. Ein Charakter wie dieser kann nie auf sich selbst gestellt werden, es giebt keine Entwicklung für ihn, die ihm seine Ruhe und sein Wohlbefinden garantieren könnte; immer bleibt er in der Gewalt der Umstände, und daher ist eine Art negativen Zustandes alles, was für ihn geschehen kann. Das ist freilich für den Betrachter nicht erfreulich, aber es ist so, und der Künstler spricht hier bloß das Naturgesetz aus. Bey Gelegenheit der Gräfinn muß ich bemerken, daß mir ihre Erscheinung im achten Buche nicht gehörig motiviert zu seyn scheint. Sie kommt zu der Entwicklung, aber nicht aus derselben.

Der Graf souteniert seinen Charakter treflich, und auch dieses muß ich loben, daß Sie ihn durch seine so gut getroffenen Einrichtungen im Hause an dem Unglück des Harfenspielers schuld seyn lassen. Mit aller Liebe zur Ordnung müssen solche Pedanten immer nur Unordnung stiften.

Die Unart des kleinen Felix, aus der Flasche zu trinken, die nachher einen so wichtigen Erfolg herbeyführt, gehört auch zu den glücklichsten Ideen des Plans. Es giebt mehrere dieser Art im Roman, die insgesammt sehr schön erfunden sind. Sie knüpfen auf eine so simple und Naturgemäße Art das Gleichgültige an das Bedeutende und umgekehrt, und verschmelzen die Nothwendigkeit mit dem Zufall.

Gar sehr habe ich mich über Werners traurige Verwandlung gefreut. Ein solcher Philister konnte allenfalls durch die Jugend und durch seinen Umgang mit Wilhelm eine Zeitlang emporgetragen werden; sobald diese zwey Engel von ihm weichen, fällt er wie recht und billig der Materie anheim, und muß endlich selber darüber erstaunen, wie weit er hinter seinem Freunde zurückgeblieben ist. Diese Figur ist auch deßwegen so wohlthätig für das Ganze, weil sie den Realism, zu welchem Sie den Helden des Romans zurückführen, erklärt und veredelt. Jetzt steht er in einer schönen menschlichen Mitte da, gleich weit von der Phantasterey und der Philisterhaftigkeit, und indem Sie ihn von dem Hange zur ersten so glücklich heilen, haben Sie vor der letztern nicht weniger gewarnt.

Werner erinnert mich an einen wichtigen chronologischen Verstoß, den ich in dem Roman zu bemerken glaube. Ohne Zweifel ist es Ihre Meinung nicht, daß Mignon wenn sie stirbt 21 Jahre und Felix zu derselben Zeit 10 oder 11 Jahre alt seyn soll. Auch der blonde Friedrich sollte wohl bey seiner letzten Erscheinung noch nicht etliche und zwanzig Jahr alt seyn u. s. f. Dennoch ist es wirklich so, denn von Wilhelms Engagement bey Serlo biß zu seiner Zurückkunft auf Lotharios Schloß sind wenigstens sechs Jahre verfloßen. Werner, der im fünften Buche noch unverheurathet war, hat am Anfang des achten schon mehrere Jungens, die „schreiben und rechnen, handeln und trödeln, und deren jedem er schon ein eigenes Gewerb eingerichtet hat“. Ich denke mir also den ersten zwischen dem 5ten u. 6ten, den zweyten zwischen d 4ten und 5ten Jahr, und da er sich doch auch nicht gleich nach des Vaters Tode hat trauen lassen und die Kinder auch nicht gleich da waren, so kommen zwischen sechs und sieben Jahre heraus, die zwischen dem 5ten und 8 Buche verfloßen seyn müssen.

Humboldts Brief folgt hier zurücke. Er sagt sehr viel wahres über die Idylle, einiges scheint er mir nicht ganz so empfunden zu haben, wie ich’s empfinde. So ist mir die treffliche Stelle:

„Ewig, sagte sie leise“

nicht sowohl ihres Ernstes wegen schön, der sich von selbst versteht, sondern weil das Geheimniß des Herzens in diesem einzigen Worte auf einmal und ganz, mit seinem unendlichen Gefolge, heraus stürzt. Dieses einzige Wort, an dieser Stelle, ist statt einer ganzen langen Liebesgeschichte, und nun stehen die zwey Liebenden so gegen einander, als wenn das Verhältniß schon Jahre lang existiert hätte.

Die Kleinigkeiten, die er tadelt, verlieren sich in dem schönen Ganzen; indessen möchte doch einige Rücksicht darauf zu nehmen seyn, und seine Gründe sind nicht zu verwerfen. Zwey Trochaeen in dem vordern Hemipentameter haben freilich zu viel schleppendes, und so ist es auch mit den übrigen Stellen. Der Gegensatz mit dem für einander und an einander ist freilich etwas spielend, wenn man es strenge nehmen will – und strenge nimmt man es immer gern mit Ihnen.

Leben Sie recht wohl. Ich habe eine ziemliche Epistel geschrieben, möchten Sie so gerne lesen, als ich schrieb.

Sch.