Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Friedrich Schiller an Gottfried Herder

Jena den 4. November [Mittwoch] 95.

Es ist eine sehr interessante Frage, die Sie in Ihrem Gespräche aufwerfen, aber auf großen Widerspruch dürften Sie Sich wohl gefaßt machen. Ich selbst möchte ein paar Worte darauf sagen, um die Frage nach meiner Weise zu lösen. Giebt man Ihnen die Voraussetzung zu, daß die Poesie aus dem Leben, aus der Zeit, aus dem Wirklichen hervorgehen, damit eins ausmachen und darein zurückfließen muß und (in unseren Umständen) kann, so haben Sie gewonnen; denn da ist alsdann nicht zu läugnen, daß die Verwandtschaft dieser Nordischen Gebilde mit unserm Germanischen Geiste für jene entscheiden muß. Aber gerade jene Voraussetzung läugne ich. Es läßt sich, wie ich denke, beweisen, daß unser Denken und Treiben, unser bürgerliches, politisches, religiöses, wissenschaftliches Leben und Wirken wie die Prosa der Poesie entgegengesetzt ist. diese Uebermacht der Prosa in dem Ganzen unsres Zustandes ist, meines Bedünkens, so groß und so entschieden, daß der poetische Geist, anstatt darüber Meister zu werden, nothwendig davon angesteckt und also zu Grunde gerichtet werden müßte. Daher weiß ich für den poetischen Genius kein Heil, als daß er sich aus dem Gebiet der wirklichen Welt zurückzieht und anstatt jener Coalition, die ihm gefährlich seyn würde, auf die strengste Separation sein Bestreben richtet. Daher scheint es mir gerade ein Gewinn für ihn zu seyn, daß er seine eigne Welt formiert und durch die Griechischen Mythen der Verwandte eines fernen, fremden und idealischen Zeitalters bleibt, da ihn die Wirklichkeit nur beschmutzen würde. Vielleicht gelingt es mir, in dem Aufsatze den ich jetzt schreibe, „über die sentimentalischen Dichter,“ Ihnen meine Vorstellungsweise klarer und annehmlicher zu machen. Denn gerade in diesem Aufsatze suche ich die Frage zu erörtern, „was der Dichtergeist in einem Zeitalter und unter den Umständen wie die unsrigen für einen Weg zu nehmen habe“. 

Man dürfte Ihnen auch noch die Erfahrung Klopstocks und einiger anderen entgegensetzen, die den Gebrauch jener Nordischen Mythen mit sehr wenig Gewinn für die Dichtkunst schon versucht haben, und bei Klopstock ist doch die Ungeschicklichkeit nicht wohl anzuklagen, wenn es mißlungen ist. 

Ich wünschte übrigens, daß die Ideen, die Sie in Ihrem Aufsatze ausstreuen, Anlaß zum Nachdenken und weiterm Fortbilden bei den Kunstverständigen geben möchten. Die Materie ist so interessant, und es müßten bei Discussion derselben so manche wichtige Dinge zur Sprache kommen. 

Das zehente Stück der „Horen“ wird Ihnen, wie ich hoffe, Montags überliefert worden seyn. Ich bin neugierig, was Sie zu dem Inhalt desselben sagen. Hier lege ich noch ein Exemplar bei. Ich bitte das üble Aussehen zu entschuldigen; die übrigen Exemplare auf Postpapier sehen noch schlimmer aus; denn wie mir Cotta schreibt, so hat der Krieg in dortigen Gegenden die Papierlieferung gestört. Ich negotiire jetzt mit ihm wegen einer Regeneration der „Horen“ auch im Aeußern. 

Ihren abgeschriebenen Aufsatz lege ich bei, damit Sie, wenn Sie ihn noch einmal durchlesen wollen, die etwanigen Schreibfehler bemerken, weil er so viele fremde Namen enthält. Ich erbitte mir ihn auf nächsten Montag zurück, wo er abgeht. Von den Meinigen die besten Grüße. 

Sch.


Bemerkungen

1 Zu S. 315. Z. 33. Der Aufsatz ist Iduna.