Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Friedrich Schiller an Gottfried Körner. 

Jena den 8. Febr. [Freitag] 93. 

Aus Erscheinung dieses Briefes siehst Du, daß der Würgengel bißher an mir vorübergegangen ist. Es sind jetzt gerade 3 Wochen über die Zeit, wo ich voriges Jahr, und 4 Wochen über die, wo ich vor 2 Jahren krank wurde. Ich habe also eine sehr wahrscheinliche Hofnung, daß meine Natur wenigstens über den Winter Meister werden wird. Meine Geschäfte gehen ungehindert fort und die Thätigkeit hält mich über Wasser. Aber fertig wird auf die Ostermesse noch nichts. Die Sache will durchdacht seyn. 

Ueber Deinen Brief, den ich vor wenig Stunden erhielt, habe ich mich gar sehr gefreut, und er hat mich in eine Stimmung gesetzt, wo mir vielleicht die kurze Darstellung meiner Idee von Schönheit gelingen wird. Wie nahe wir einander in unsern Ideen gekommen sind, wirst Du bald sehen, und vielleicht findest Du gewiße, mehr von Dir bloß geahndete Ideen in meiner Vorstellung des Schönen verdeutlicht. Deine Ausdrücke Leben in den äußeren Objekten, herrschende Kraft u: Sieg der herrschenden Kraft, heterogene Kräfte, widerstrebende Kräfte u. d. gl., sind zu unbestimmt, als daß Du sicher seyn könntest, gar nichts willkürhliches, nichts zufälliges darein zu legen; sie sind mehr aesthetisch-, als logisch deutlich und deßwegen gefährlich. 

Alsdann kann Dich ein Kantianer immer noch mit der Frage in die Enge treiben, nach welchem Princip der Erkenntniß der Geschmack verfahre? Du gründest Deine Idee einer herrschenden Kraft auf die eines Ganzen, auf den Begriff der Einheit des verbundenen, Mannichfaltigen, aber woran erkennt man diese Einheit? Offenbar nur durch einen Begriff; man muß einen Begriff von dem Ganzen haben, zu welchem das Mannichfaltige zusammenstimmen soll. Deine herrschende Kraft und die sinnliche Vollkommenheit der wolfschen Schule liegen nicht so gar weit voneinander, denn der Proceß der Beurtheilung ist bey beiden logisch. Beide setzen voraus, daß man der Beurtheilung einen Begriff unterlege. Nun hat Kant darinn offenbar recht, daß er sagt, das Schöne gefalle ohne Begriff; ich kann ein schönes Object lange vorher schön gefunden haben, ehe ich nur entfernt im Stande bin, die Einheit s. Mannichfaltigen anzugeben, und zu bestimmen, was die herrschende Kraft an demselben ist.

Uebrigens rede ich hier mehr als Kantianer, denn es ist am Ende möglich, daß auch meine Theorie von diesem Vorwurfe nicht ganz frey bleibt. Ich habe einen doppelten Weg vor mir, Dich in meine Theorie hineinzuführen; einen sehr unterhaltenden und leichten, durch die Erfahrung, und eine sehr reizlosen, durch Vernunftschlüsse. Lass mich den lezten vorziehen; denn ist der einmal zurückgelegt, so ist das übrige desto angenehmer. 

Wir verhalten uns gegen die Natur (als Erscheinung) entweder leidend oder thätig, oder leidend und thätig zugleich. 

leidend: wenn wir ihre Wirkungen bloß empfinden; thätig: wenn wir ihre Wirkungen bestimmen; beides zugleich, wenn wir sie uns vorstellen. 

Es gibt 2erley Arten sich die Erscheinungen vorzustellen. Entweder wir sind mit Absicht auf ihre Erkenntniß gerichtet: wir beobachten sie; oder wir lassen uns von den Dingen selbst zu ihrer Vorstellung einladen. Wir betrachten sie bloß. 

Bei Betrachtung der Erscheinung verhalten wir uns leidend, indem wir ihre Eindrücke empfangen: thätig, indem wir diese Eindrücke unseren Vernunftformen unterwerfen (dieser Satz wird aus der Logik postuliert). 

Die Erscheinungen nehmlich müssen sich in unserer Vorstellung nach den FormalBedingungen der Vorstellungskraft richten (denn eben das macht sie zu Erscheinungen), sie müssen die Form von unserem Subjekt erhalten. 

Alle Vorstellungen sind ein Mannichfaltiges oder Stoff; die Verbindungsweise dieses Mannichfaltig ist s. Form. Das Mannichfaltige gibt der Sinn; die Verbindung gibt die Vernunft (in allerweitester Bedeutung), denn Vernunft heißt das Vermögen der Verbindung. 

Wird also dem Sinne ein Mannichfaltiges gegeben, so versucht die Vernunft demselben ihre Form zu ertheilen, d. i. es nach ihren Gesetzen zu verbinden. 

Form der Vernunft ist die Art u: Weise, wie sie ihre Verbindungskraft äusert. Es gibt aber zwey verschiedene Hauptäuserungen der Verbindenden Kraft, also auch ebensoviele Hauptformen der Vernunft. Die V. verbindet entweder Vorstellung mit Vorstellung zur Erkenntniß (theoretische Vernunft) oder sie verbindet Vorstellungen mit dem Willen zur Handlung (praktische Vernunft). 

So wie es 2 verschiedene Formen der Vernunft gibt, so gibt es auch 2erley Materien für jede dieser Formen. Die theoretische Vernunft wendet ihre Formen auf Vorstellungen an, und diese lassen sich in unmittelbare (Anschauung), und in mittelbare (Begriffe) eintheilen. Jene sind durch den Sinn, diese durch die Vernunft selbst (obschon nicht ohne Zuthun des Sinnes) gegeben. In den ersten, den Anschauungen, ist es zufällig, ob sie mit der Form der Vernunft übereinstimmen; in den Begriffen ist es nothwendig, wenn sie sich nicht selbst aufheben sollen. Hier findet also die Vernunft Uebereinstimmung mit ihrer Form; dort wird sie überrascht, wenn sie sie findet. 

Ebenso ist es mit der Praktischen (handelnden) Vernunft. Diese wendet ihre Form auf Handlungen an, und diese lassen sich entweder als freie oder als nicht freie Handlungen, Handlungen durch oder nicht durch Vernunft, betrachten. Die pr. Vernunft fodert von der ersten eben das, was die theoretische von den Begriffen. Uebereinstimmung freier Handlungen mit der Form der praktischen Vernunft ist also nothwendig; Übereinstimg nicht-freier mit dieser Form ist zufällig. 

Man drückt sich daher richtiger aus, wenn man diejenigen Vorstellungen, welche nicht durch theoretische Vernunft sind und doch mit ihrer Form übereinstimmen, Nachahmungen von Begriffen, diejenigen Handlungen, welche nicht durch prakt. Vernunft sind und doch mit ihrer Form übereinstimmen, Nachahmungen freier Handlungen; kurz, wenn man beide Arten Nachahmungen (Analoga) der Vernunft nennt. 

Ein Begriff kann keine Nachahmung der Vernunft seyn, denn er ist durch Vernunft, und Vernunft kann sich nicht selbst Nachahmen; er kann der Vernunft nicht bloß analog, er muß wirklich vernunftmäßig seyn. Eine Willenshandlung kann der Freiheit nicht bloß analog, sie muß – oder soll wenigstens – wirklich frey seyn. Hingegen kann eine mechanische Wirkung (jede Wirkung durchs Naturgesetz) nie als wirklich frey, sondern bloß der Freiheit analog beurtheilt werden. 

Hier will ich Dich einen Augenblick ausschnaufen lassen, besonders um Dich auf den letzten Absatz aufmerksam zu machen, weil ich ihn in der Folge wahrscheinlich nöthig haben werde, um einen Einwurf, den ich von Dir gegen meine Theorie erwarte zu beantworten. Ich fahre fort. 

Die theoret. Vernunft geht auf Erkenntniß. Indem sie also ein gegebenes Objekt ihrer Form unterwirft, so prüft sie, ob Erkenntniß daraus zu machen sey, d. i. ob es mit einer schon vorhandenen Vorstellung verbunden werden könne. Nun ist die gegebene Vorstellung entweder ein Begriff, oder eine Anschauung. Ist sie ein Begriff, so ist sie schon durch ihre Entstehung, durch sich selbst, nothwendig auf Vernunft bezogen, und eine Verbindung, die schon ist, wird bloß ausgesagt. Eine Uhr z. B. ist eine solche Vorstellung. Man beurtheilt sie bloß nach dem Begriff, durch den sie entstanden ist. Die Vernunft braucht also bloß zu entdecken, daß die gegebene Vorstellung ein Begriff ist, so entscheidet sie eben dadurch, daß sie mit ihrer Form übereinstimme. 

Ist aber die gegebene Vorstellung eine Anschauung, und soll die Vernunft dennoch eine Uebereinstimmung derselben mit ihrer Form entdecken, so muß sie (regulatif, nicht, wie im ersten Falle, constitutif) und zu ihrem Behuf der gegeben Vorstellung einen Ursprung durch theoretische Vernunft leyhen, um sie nach Vernunft beurtheilen zu können. Sie legt daher aus eigenem Mittel in den gegebenen Gegenstand einen Zweck hinein, und entscheidet, ob er sich diesem Zwecke gemäß verhält. Dies geschieht bei jeder teleologischen, jenes bey jeder logischen Naturbeurtheilung. Das Objekt der logischen ist Vernunftmäßigkeit, das Objekt der teleologischen Vernunftähnlichkeit.

––––––– 

Ich vermuthe, Du wirst aufgucken, daß Du die Schönheit unter der Rubrik der theoretischen Vernunft nicht findest, und daß Dir ordentlich dafür bange wird. Aber ich kann Dir einmal nicht helfen, sie ist gewiß nicht bey der theoretischen Vernunft anzutreffen, weil sie von Begriffen schlechterdings unabhängige ist; und da sie doch zuverlässig in der Familie der Vernunft muß gesucht werden, und es außer der theoret. V. keine andere als die praktische gibt, so werden wir sie wohl hier suchen müssen, und auch finden. Auch, denke ich, sollst Du, wenigstens in der Folge, Dich überzeugen, daß ihr diese Verwandtschaft keine Schande macht. 

––––––– 

Die praktische Vernunft abstrahirt von aller Erkenntniß und hat bloß mit Willensbestimmungen, innern Handlungen zu thun. Praktische Vernunft und Willensbestimmung aus bloßer Vernunft sind eins. Form der praktischen Vernunft ist unmittelbare Verbindung des Willens mit Vorstellungen der Vernunft, also Ausschließung jedes äusern Bestimmungsgrundes; denn ein Wille, der nicht durch die bloße Form der pr. Vernunft bestimmt ist, ist von außen, materiell, heteronomisch, bestimmt. Die Form der praktischen Vernunft annehmen oder nachahmen, heißt also bloß: nicht von außen, sondern durch sich selbst bestimmt seyn, autonomisch bestimmt seyn, oder so erscheinen. 

Nun kann die pr. Vernunft, ebenso wie die theoretische, ihre Form sowohl auf das, was durch sie selbst ist (freie Handlungen), als auf das, was nicht durch sie ist (Naturwirkungen), anwenden. 

Ist es eine Willenshandlung, worauf sie ihre Form bezieht, so bestimmt sie bloß, was ist; sie sagt aus, ob die Handlung das ist, was sie seyn will und soll. Jede moralische Handlung ist von dieser Art. Sie ist ein Produkt des reinen, d. i. des durch bloße Form und also autonomisch bestimmten Willens, und sobald die Vernunft sie dafür erkennt, sobald sie weiß, daß es eine Handlung des reinen Willens ist, so versteht es sich auch schon von selbst, daß sie der Form d. prakt. Vernunft gemäß ist: denn daß ist völlig identisch. 

Ist der Gegenstand, auf den die pr. V. ihre Form anwendet, nicht durch einen Willen, nicht durch prakt. Vern. da, so macht sie es ebenso mit ihm, wie die theoretische es mit Anschauungen machte, die Vernunftähnlichkeit zeigten. Sie leyht dem Gegenstande (regulatif, und nicht, wie bey der moralischen Beurtheilung, constitutiv) ein Vermögen sich selbst zu bestimmen, einen Willen, und betrachtet ihn alsdann unter der Form dieses seines Willens (ja nicht ihres Willens, denn sonst würde das Urtheil ein moralisches werden). Sie sagt nämlich von ihm aus, ob er das, was er ist, durch seinen reinen Willen, d. i. durch seine sich selbstbestimmende Kraft, ist; denn ein reiner Wille und Form der praktischen Vernunft ist eins. 

Von einer Willenshandlung oder moralischen Handlung fordert sie imperatif, daß sie durch reine Form der Vernunft sey; von einer Naturwirkung kann sie (nicht fodern) aber wünschen, daß sie durch sich selbst sei, daß sie autonomie zeige. (Aber hier muß noch einmal bemerkt werden, daß die pr. Vernunft von einem solchen Gegenstand durchaus nicht verlangen kann, daß er durch sie, nämlich durch praktische Vernunft, sey; denn da wäre er nicht durch sich selbst, nicht autonomisch, sondern durch etwas äußeres [weil sich jede Bestimmung durch Vernunft gegen ihn als etwas äußeres als heteronomie verhält], also durch einen fremden Willen bestimmt.) Reine Selbstbestimmung überhaupt ist Form der pr. Vernunft. Handelt also ein Vernunftwesen, so muß es aus reiner Vernunft handeln, wenn es reine Selbstbestimmung zeigen soll. Handelt ein bloßes Naturwesen, so muß es aus reiner Natur handeln, wenn es reine Selbstbestimmung zeigen soll; denn das Selbst des Vernunftwesens ist Vernunft, das Selbst das Naturwesens ist Natur. Entdeckt nun die praktische Vernunft bei Betrachtung eines Naturwesens, daß es durch sich selbst bestimmt ist, so schreibt sie demselben (wie die theoret. Vernunft in gleichem Fall einer Anschauung Vernunftähnlichkeit zugestand), Freiheitähnlichkeit oder kurzweg Freiheit zu. Weil aber diese Freiheit dem Objekt von der Vernunft bloß geliehen wird, da nichts frey seyn kann, als das Uebersinnliche, und Freiheit selbst nie als solche in die Sinne fallen kann – kurz – da es hier bloß darauf ankommt, daß ein Gegenstand frei erscheine, nicht wirklich ist: so ist diese Analogie eines Gegenstandes mit der Form der pr. Vernunft nicht Freiheit in der That, sondern bloß Freiheit in der Erscheinung, Autonomie in der Erscheinung. 

Hieraus ergibt sich also eine 4fache Beurhteilungsart, und eine ihr entsprechend vierfache Classification der vorgestellten Erscheinung. 

Beurtheilung von Begriffen nach der Form der Erkenntniß ist logisch: Beurtheilung von Anschauungen nach eben dieser Form ist teleologisch. Eine Beurtheilung freier Wirkungen (moralischer Handlungen) nach der Form des reinen Willens ist moralisch; eine Beurtheilung nichtfreier Wirkungen nach der Form des reinen Willens ist ästhetisch. Übereinstimmung eines Begriffs mit der Form d. Erkenntniß ist Vernunftmäßigkeit (Wahrheit, Zweckmäßigkeit, Vollkommenheit sind bloß Beziehungen dieser leztern), Analogie einer Anschauung mit der Form der Erkenntniß ist Vernunftähnlichkeit (Teleophanie, Logophanie möchte ich sie nennen), Übereinstimmung einer Handlung mit der Form des r. Willens ist Sittlichkeit. Analogie einer Erscheinung mit der Form des r. Willens oder der Freiheit ist Schönheit (in weitester Bedeutung). 

Schönheit also ist nichts anders, als Freiheit in der Erscheinung. 

Hier muß ich abbrechen, weil ich diesen Brief bald in Deinen Händen wünsche, und auf Deine Antwort äuserst begierig bin. Viel kannst Du aus dem Wenigen, was hier gesagt ist, schon prognosticiren und errathen. Auch freue ich mich, wenn Du einige Resultate selbst findest. Schreibe mir ja bald und ausführlich. Ich gäbe gleich zwanzig Thaler, um auf einige Stunden Dich zu sprechen; gewiß würden sich unsere Ideen durch Friction noch besser entwickeln. Lebe wohl. Von meiner Frau und Schwägerin herzliche Grüße an euch alle. Was sprichst Du zu den französischen Sachen? Ich habe wirklich eine Schrift für den König schon angefangen gehabt, aber es wurde mir nicht wohl darüber, und da ligt sie mir nun noch da. Ich kann seit 14 Tagen1 keine franz. Zeitung mehr lesen, so ekeln diese elenden Schindersknechte mich an. Lebewohl 

               Dein 

S.


1) Am 21. Jan. 1793 war Ludwig XVI. enthauptet.


Bemerkungen

1 Zu S. 246. Z. 28. Vgl. zu Nr. 634.