Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Friedrich Schiller an Gottfried Körner

Weimar d. 30. März [Montag] 89.

Deinen Brief habe ich in dem Augenblick erhalten, wo der meinige abgieng. Du hast mich sehr damit erfreut. Was Du von den Künstlern urtheilst stimmt mit meiner Erwartung überein; wir müssen einander ja kennen. Ich fürchte, daß Deine Bemerkung wegen gewisser Dunkelheit im Ausdruck wahr ist, und bey einigen Lesern fand ich sie auch schon bestätigt. Wieland hat manches nicht verstanden. Diese Dunkelheit thut mir darum besonders leid, weil sie einige vorzügliche Gedanken trift, die ich in das möglichste Licht gesetzt wünschte. Wir wollen doch diejenigen durchgehen, die Du ausgehoben hast.

1) Das Kind der Schönheit – empfangen1. Ich will sagen: Jedes Kunstwerk, jedes Werk der Schönheit ist ein Ganzes, und so lange es den Künstler beschäftigt, ist es sein eigener einziger Zweck; so zum Beispiel eine einzelne Säule, eine einzelne Statue, eine poetische Beschreibung. Es ist sich allein genug. Es kann für sich bestehen, es ist vollendet in sich selbst. – Nun sage ich aber, wenn die Kunst weiter fortschreitet, so verwandelt sie diese einzelne Ganze in Theile eines neuen und Größern Ganzen d. i. ihr letzter Zweck ist nicht mehr in ihnen, sondern außer ihnen, darum sage ich sie habe ihre Krone verloren. Die Statue, die einzeln gleichsam geherrscht hat, gibt diesen Vorzug an den Tempel ab, den sie ziert; der Karakter eines Hektor an sich allein schon vollkommen, dient nur als ein subordinirtes Glied in der Iliade; die einzelne Säule dient der Symmetrie. Je reicher je vollkommener die Kunst wird, desto mehrere einzelne Ganze gibt sie uns in einem größeren Ganzen als Theile zu genießen, oder desto verwickelter und üppiger ist die Mannichfaltigkeit in der sie uns Einheit finden läßt. Wenn ich weiter hinten2 sage, der Zeus des Phidias neige sich in seinem Tempel zu Olympia, so sage ich nichts anderes, als: Diese Statue, die für sich selbst ein Gegenstand der allgemeinen Bewunderung seyn würde hört auf, ihre Wirkung allein hervorzubringen sobald sie in dem Tempel steht, und gibt nur das ihrige zu dem Totaleindruck von Majestät u. s. f. der durch das Ensemble des ganzen Tempels hervorgebracht wird. Aber die eigentliche Schönheit dieser Stelle liegt in einer Anspielung auf die gebückte Stellung des olympischen Jupiters, der in diesem Tempel sitzend und so vorgestellt war, daß er das Dach hätte aufheben müssen, wenn er sich aufgerichtet hätte. Wer dieses weiß, dem wird durch meinen Ausdruck: er neigt sich, eine angenehme Nebenidee erweckt. Mir hat überhaupt diese gebückte Stellung des olymp. Jupiter immer sehr gefallen, weil sie soviel sagen kann, als hätte sich der Gott herabgelassen und nach der menschlichen Einschränkung bequemt, und alles würde unter ihm zusammenfallen, wenn er sich aufgerichtet, d. i. als Gott zeigte.

2) Die seine Gier nicht in sein Wesen reißt3. Jeder sinnlichen Begierde ligt ein gewisser Drang zum Grunde, den Gegenstand dieser Begierde sich einzuverleiben, in sich hinein zu reissen, von der Lust des Gaumens an biß auf die sinnliche Liebe. Die sinnliche Begierde zerstört ihren Gegenstand, um ihn zu einem Theil des begehrenden Wesens zu machen.

3) Der Leidenschaften wilden Drang – in den Weltenlauf4. Die moralischen Erscheinungen, Leidenschaften, Handlungen, Schicksale, deren Verhältnisse der Mensch im großen Laufe der Natur nicht immer verfolgen und übersehen kann, ordnet der Dichter nach künstlichen, d. i. er giebt ihnen künstlich Zusammenhang und Auflösung. Diese Handlung begleitet er mit Glückseligkeit, jene Leidenschaft läßt er zu diesen oder jenen Handlungen führen, dieses Schicksal spinnt er aus diesen Handlungen oder diesen Charakteren u. s. f. Der Mensch lernt nach und nach diese künstlichen Verhältnisse in den Lauf der Natur übertragen, und wenn er also eine einzelne Leidenschaft oder Handlung in sich oder um sich herum bemerkt, so leyht er ihr – nach einer gewissen Reminiszenz aus seinen Dichtern – dieses oder jenes Motiv, dieses oder jenes Ende – d. i. er denkt sie sich als den Theil oder das Glied eines Ganzen; denn sein durch Kunstwerke geübtes Gefühl für Ebenmaaß leidet keine Fragmente mehr. Überall sucht er die Symmetrie, die ihn die Kunst kennen gelehrt hat. Aber

4) dieses Gesetz des Ebenmaaßes wendet er zu früh auf die wirkliche Welt an, weil viele Parthien dieses großen Gebäudes für ihn noch in Dunkel gestellt sind. Um also sein Gefühl für Ebenmaaß zu befriedigen, muß er der Natur eine künstliche Nachhilfe geben, er muß ihr gleichsam borgen. So zun Beispiel fehlte es ihm an dem nöthigen Lichte, das Leben des Menschen zu überschauen, und die schönen Verhältnisse von Moralität und Glückseligkeit darinn zu erkennen. Er fand in seiner kindischen Einbildung Disproportionen; da sich aber sein Geist einmal mit dem Ebenmaaße vertraut gemacht, so schenkt er aus dichtender Eigenmacht dem Leben ein zweytes um in diesem zweyten die Disproportionen des jetzigen aufzulösen. So entstand die Poesie von einer Unsterblichkeit. Die Unsterblichkeit ist ein Product des Gefühls für Ebenmaaß, nach dem der Mensch die moralische Welt beurtheilen wollte, ehe er diese genug überschaute.

5) Das Gleichniß: Der Schatten in des Mondes Angesichte5 usf. hat in meinen Augen einen ungemeinen Werth. Das Menschliche Leben, sage ich in den vorhergehenden Versen, erscheint dem Menschen als ein Bogen, d. i. als ein unvollkommener Theil eines Kreises, den er durch die Nacht des Grabes fortsetzt, um den Zirkel ganz zu machen (von Schönheit oder Kunstgefühl sich regieren lassen ist ja nichts anderes, als den Hang haben, alles ganz zu machen, alles zur Vollendung zu bringen). Nun ist aber der wachsende Mond ein solcher Bogen, und der übrige Theil der noch fehlt um den Zirkel völlig zu machen, ist unbeleuchtet. Ich stelle also zwey Jünglinge nebeneinander, davon der eine beleuchtet ist, der andere nicht, (mit umgestürztem Lichte) jenen vergleiche ich mit der beleuchteten MondesHälfte, diesen mit der schwarzen, oder was eben soviel sagt, die Alten, die den Tod bildeten, stellten ihn als einen Jüngling vor, der eben so schön ist als sein Bruder, das Leben; aber sie gaben ihm eine umgestürzte Fackel, um anzudeuten, daß man ihn nicht sehe – eben so wie wir an den ganzen Ring des Mondes glauben, ob er uns gleich nur als ein Bogen oder als ein Horn erscheint. Ich habe in dieser Stelle ein Gleichniß Ossians in Gedanken gehabt und zu veredeln gesucht. Ossian sagt von einem der dem Tode nahe war „der Tod stand hinter ihm, wie die schwarze Hälfte des Mondes hinter seinem silbernen Horn.“6 Diese ganze Strophe muß man überhaupt mit einer lebhaften Gegenwart des Hauptgedankens lesen „daß der Mensch, in dem einmal das Gefühl für Schönheit, für Wohlklang und Ebenmaaß rege und herrschend geworden ist, nicht ruhen kann, biß er alles um sich in Einheit auflößt, alle Bruchstücke ganz macht, alles mangelhafte vollendet, oder, was eben soviel sagt, biß er alle Formen um sich her den vollkommensten nähert.

Ich finde, daß es schwer ist, den Commentator über sich selbst zu machen, schriftlich wenigstens; im Gespräch würdest Du mir bald meine ganze Vorstellungsart entlockt haben. Indessen ist sie vielleicht doch in diesem wenigen enthalten.

Nun noch geschwind von Geschäften. Um den Beutischen Posten zu tilgen (welches mir von dem Gelde was mir Göschen zu zahlen hat unmöglich wäre, da mir die Professor und Magister Gebühren mit dem nothwendigsten in meiner anderen Einrichtung allein über 150 Rthlr. hinwegnehmen) bin ich auf ein Mittel gefallen, das mir sehr ausführbar scheint. Wenn ich alle meine kleinen prosaischen Aufsätze, Selbstarbeiten sowohl als Uebersetzungen, schlechte und gute, zusammen schreiben lasse, so kommt ungefähr eine Summe von 25 biß 30 Bogen heraus. Wenn ich meine Gedichte sammele, bloß mit Weglassung der ganz und gar schlechten, so entstehen auch wohl 10-12 Bogen. Würde mir nun pro Bogen ein Carolin bezahlt, so würde ich dann gegen 40 Carolin einzunehmen haben. Nach dieser angestellten Berechnung schrieb ich an Crusius: Ich wolle meine einzelnen prosaischen Aufsätze und Gedichte sammeln und in 3 Bändchen herausgeben; Ich verlange für den Bogen 1 Carolin, aber unter der Bedingung (sine qua non) 1) dass sie mir bezahlt würden, wie ich ihm das Mscrpt vollständig in die Hände stellte, und 2) dass sie erst auf künftige Ostern gedruckt und mir einen Monat vorher zum Durchsehen zugeschickt würden. Dafür machte ich mich anheischig, ihm das Geld auf ein Jahr lang zu verinteressiren, und ihm die ganze vorgeschossene Summe in Leipzig zu assigniren, sobald ich das Mscrpt wieder aus seinen Händen verlangte, um es durchzusehen. Dadurch ist der Buchhändler gegen alle Zufälle gedeckt, ich mag leben oder sterben; und was diese Sammlung selbst anbetrifft, so brauche ich übers Jahr nur einen einzigen historischen Aufsatz von 12-15 Bogen zu machen, um aus der Sammlung die mittelmäßigen wieder herauszuwerfen.

Auf meinen Brief an Crusius habe ich noch keine Antwort, aber meine Aufsätze lasse ich auf jeden Fall schon abschreiben. Contrahiren kann ich immer und einen Verleger finde ich gewiß; habe ich aber diesen, und das Mscrpt ist vollständig und fertig, so kann ich, oder Du vielleicht noch besser, ohne Gefahr Geld auf diese Waare aufnehmen. Schreibe mir in Deinem nächsten Brief darüber.

Die ersten 3 Stücke vom Merkur schicke mir zurück. Ich will Dir ihn künftig besorgen; es kommt nur darauf an, ob ich sie Dir von Jena aus früher schicken kann, als Göschen sie aus Leipzig schickt.

Auf Deinen Aufsatz bin ich sehr begierig; ich glaube, Dich zu ahnden, und Deine alten Ideen über die Begeisterung mögen in diesem Aufsatz einen guten Platz gefunden haben. Mache, daß ich ihn bald habe. Schicke!

Minna und Dorchen grüße schön. Lebewohl.

Schiller.

Noch etwas zur Zugabe. Jemand7 von hier, der viel Geschmack haben soll, und viel Gefühl haben will, bekam auch die Künstler zu lesen. Ich hatte einige Zeit darauf Gelegenheit, mit ihm zu sprechen. In den Künstlern, fieng er an, habe ihm einiges (er accentuirte wie ich schreibe) recht wohl gefallen; einiges aber nicht und besonders, wo ein Unterschied zwischen Seele und Körper vorausgesetzt worden sey. (Dieser Jemand ist sehr materiell mußt Du wissen.) Die Verse, komme ihm vor, seyen auch gut und fließend. Der Anfang des Gedichts habe ihm misfallen. Als ich fragte, warum? war die Antwort, die Ursache liege in dem Ausdrucke: O Mensch! Dieses Wort habe eine so häßliche Nebenidee u. s. f. Ich wünsche, Du schriebst mir über dieses Urtheil und bezögest Dich namentlich auf das, was ich Dir hier anführte. Was ich damit will, sollst Du einmal erfahren. N. B. Dieser Mensch wollte und (sollte gewissermaßen) und glaubte, mir etwas angenehmes zu sagen. Er sagte mir selbst ein andermal, er habe ein so lebhaftes Gefühl für schönheit der Poesie, daß er kaum widerstehen könne, das Buch zu küssen, das ihm gefiele. Vergiß nicht mir über diesen Jemand, den Du ja nicht kennst, Deine Herzensmeinung zu schreiben, aber thu es auf einem besonderen Blatt.