Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Friedrich Schiller an Gottfried Körner

Weimar, 15. Mai [Donnerstag] 1788.

Der Canonicus Gleim1 aus Halberstadt ist seit etlichen Tagen hier; das macht denn, daß ich mich wieder sehr in Gesellschaft herumtreibe. Er wohnt bei Herder, und jetzt ist fast kein Tag, wo wir nicht irgendwohin gebeten werden. Ich weiß eigentlich nicht, in welcher Achtung er bei Dir steht, als Schriftsteller nämlich. Er ist aber merkwürdig durch eine Thätigkeit und Munterkeit des Geistes, die in seinem Alter, da er gegen die Siebzig anrückt, außerordentlich ist. Höchstens würdest Du ihn für einen Funfziger und kaum für das halten. Von allen unseren berühmten Männern aus seiner Classe mag er den wohlwollendsten Charakter haben, und der wirksamsten Freundschaft fähig seyn – versteht sich, wie man Freundschaft für Viele empfinden kann; denn eines engen ausschließenden Verhältnisses ist er wohl nie fähig gewesen, kann es auch seiner Laune und seinem Temperamente nach nicht wohl seyn. Seine Schriften malen ihn ganz. Eben diese genaue Uebereinstimmung des Mannes mit jenen ist es, was mir seine Bekanntschaft so angenehm machte. Alles was er schreibt ist, wie er mir auch selbst gestand, nur der Ausfluß des Augenblicks gewesen. Was mehr als eine oder zwei Stunden ihn anhaltend beschäftigen müßte, ist nicht für ihn. Einer weitläufigen Composition hält er sich durchaus nicht fähig; auch halten ihn seine Amtsgeschäfte davon ab, denn, was ich gar nicht erwartet hatte, er hat als Canonicus viel Arbeit, und vorzüglich Rechnungen. Am meisten aber beschäftigen ihn kleine Dienste für die zahlreiche Familie seiner Freunde und Bekannten, für die er, wie gesagt, sehr thätig seyn kann. Er und der Geheime Rath Schmidt (Geheimer Rath seit vier Wochen) waren vor dreißig und sechsunddreißig Jahren sehr intime Freunde und gehörten zu der Kameradschaft, bei welcher Klopstock, Jacobi und die Uebrigen waren2. Ich höre nun mit Vergnügen diese alten Kerle von jenen Zeiten sich unterhalten, und ihr burschikoses Leben sich mit Wärme zurückrufen. Gestern waren wir bei Bertuch. Stelle Dir vor und erstaune mit mir – Herder war auch da, Herder, der, wie Du weißt, sonst vor ihm ausgespieen hat; alsdann Bode, Voigt, Wieland, Schmidt, Knebel, Krause3 und ich. Dieselbe Gesellschaft ist heute Abend bei Wieland. Gestern sind sich Bode und Wieland wegen Klopstocks beinahe in die Haare gekommen; aber das Recht war offenbar auf Wielands Seite, weil er äußerst billig und achtungsvoll von Klopstock sprach. Bode aber übertreibt seinen Werth aufs Gröbste, und macht ihn zu einem ebenso großen Menschen als Dichter, welches er durch Handlungen beweist, von denen er mir leid thäte, wenn Du und ich, und Leute, die noch etwas weniger sind als wir, sie nicht ohne Anstrengung im äußerst gewöhnlichen Lauf des Lebens ausüben könnten.

Ich habe mich mit Herder über historische Schriftstellerei, Magnetismus und verborgene physische Kräfte unterhalten. Er ist sehr für die letzteren, und besonders für eine Art von Emanation des Fluidi nervei, oder was es sonst ist, aus einem Körper in den anderen, woraus er die Sympathien und Antipathien, den Zusammenhang der Mutter mit dem Kinde u. s. w. erklärt. So sagt er von sich, daß ihm das erste Zusammenkommen mit einem fremden Menschen ein dunkles physisches Gefühl erwecke, ob dieser Mensch für ihn tauge oder nicht. Herder neigt sich äußerst zum Materialismus, wo er nicht schon von ganzem Herzen daran hängt. Sein letzter Theil der Ideen wird, wie er mir sagt, nicht herauskommen. Fertig ist er längst. Warum er damit zurückhält, mocht ich ihn nicht fragen, weil es wahrscheinlich seien verdrießlichen Ursachen hat. Vielleicht kann ich ihn in Manuscript von ihm erhalten, und dann sollst Du auch dabei zu Gaste sein. Ich bin willens, Herdern diesen Sommer, so zu sagen, zu verzehren.

Goethes fünften Theil habe ich vor einer Stunde unter anderen Recensendis aus Jena erhalten. Ich freue mich auf die Recension des Egmont; jetzt habe ich nur einen Blick hineinwerfen können und schon viel Vortreffliches entdeckt. Göschen giebt auch, wie Du wissen wirst, ein periodisches kritisches Werk4 heraus, an dem ich auch Antheil nehmen werde, weil ich darin an kein Buch und auch an keinen Raum gebunden bin5. In der jenaschen Zeitung stehen bis jetzt nur vier Recensionen6 von mir, weil ich sie erst vor vier Wochen eingeschickt habe7. Ich halte mir die Zeitung jetzt selbst, weil ich auf dem Lande leicht außer Connexion mit der Literatur kommen könnte.

Hier macht die Thalia wieder schrecklich viel Aufsehen; sie circulirt durch alle Häuser, und mir werden gar erstaunlich schöne Sachen darüber gesagt. Soviel ist indessen gewiß, daß ich mir diesen Geschmack des Publicums zu Nutzen machen und soviel Geld davon ziehen werde, als nur immer möglich ist. Indessen wirst Du finden, daß diese Fortsetzung des Geistersehers mehr Kopf gekostet hat, als der Anfang, weil es nichts Kleines war, in eine planlose Sache Plan zu bringen, und so viele zerrissene Fäden wieder anzuknüpfen. Ich bin auf Deine Meinung begierig. Mein Plan auf Götz8 ist mir fehlgeschlagen, wenigstens für jetzt; aber endlich muß er doch einmal herausrücken.

Dies ist wahrscheinlich mein letzter Brief aus Weimar. Sobald sich das Wetter ändert, fliege ich aufs Land. Wie stehts bei Dir? Ich erwarte mit der heutigen Post Nachricht. Adieu. Grüße mir alle recht herzlich.

P. S. Hier folgen die Bücher. Eines, das den Titel führt: Vie et généalogie (oder ohngefähr so) de Guillaume I, Prince d’Orange, habe ich gar nicht mit hieher genommen. Es muß sich also bei Dir oder unter den Sachen finden, welche ich und Huber zurückgelassen haben9.

S.